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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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ist zu klein? Sie wendet sich um und öffnet die Arme.
    Der Vater verschränkt seine Arme vor der Brust.
    Der Vater verschließt den Mund.
    Der Vater schüttelt den Kopf.
    Sonnie möchte sich vor ihn werfen, seine Beine umklammern, Tränen vergießen. Er soll sie übers Knielegen. Er soll ihr schönes Händchen nehmen. Er soll ein erlösendes Wort sagen.
    Das Telefon klingelt.
    Sonnie geht ins Nebenzimmer. Sie nimmt den Hörer auf. Ein Wähltelefon aus Bakelit. An einer Schnur. In einer Dose. In ihrem Elternhaus ist die Zeit stehen geblieben. Sonnie ist das kleine dicke Kind.
    Käse-Schabi ist dran.
    »Wie geht’s Oma?«, fragt sie.
    »Sie hat es überstanden.«
    »Ach, geht’s ihr besser?«
    »Sie ist tot.«
    Oma ist doch totzukriegen.
    »Also, du hast einen Sohn, und du wirst noch ein Kind haben.«
    Die Mutter Oberin streicht Rhett über den Kopf, streicht ihm wieder und wieder über den Kopf. Streicheln, denkt Rhett. Soll nicht aufhören.
    »… nicht Vater sein …«, murmelt er. »… keine Eltern …«
    »Du hast Eltern. Ich hab Eltern. Jeder Mensch hat Eltern«, sagt Schwester Cäcilia und hört nicht auf zu streicheln, als hätte sie Rhetts Wunsch gehört.
    »Aber Sie haben auch kein Kind«, sagt Rhett in ihren Schoß.
    »Ich habe mein Leben Gott geweiht«, sagt sie und lacht auf. »Der ist wie ein großes Kind.«
    »Aber Sie wollten nie Mutter sein?«
    Cäcilia schweigt und sieht durch die Wand hinaus in ihr Leben, wie es hätte sein können. Rhett folgt ihremBlick. Er sieht eine junge Frau, daneben einen jungen Mann. Ein Reihenhaus. Ein Auto davor. Kinder.
    »Ich bin nicht Teil der Welt«, sagt Cäcilia. »Erst durch ein Kind wird man Teil der Welt. Die Schöpfung will das so. Man wird haftbar. Deine Eltern waren einfache Leute«, sagt Cäcilia leise. »Deine Mutter war sechzehn, als sie mit dir schwanger war. Ihre Eltern haben sie gezwungen, dich heimlich zur Welt zu bringen und uns zu geben. Der junge Mann, der sie geschwängert hat, hat sie fünf Jahre später geheiratet. Sie konnten keine Kinder mehr bekommen.«
    Meine Eltern waren einfache Leute, denkt Rhett, und starrt auf seine aristokratischen Finger.
    Sonnie! Ihre Abwesenheit tut ihm körperlich weh. Er ist ihr dankbar, dass auch sie ihm etwas angetan hat. Sie hat ihn geschlagen. Sie hat ihn betrogen. Sie hat ihn bestraft, und er hat Strafe verdient. Rhett richtet sich auf. Es scheint ihm plötzlich unschicklich, im Schoß einer fetten alten Frau zu liegen, die obendrein eine Jungfrau ist, eine Nonne, kein Teil der Welt. Er könnte ein Teil der Welt sein. Er könnte Vater sein. Er könnte haftbar sein.
    Die Tür springt auf. Die Stammeskriegerin steht draußen und lächelt. Ein Kinderchor kräht »Happy Birthday to you«. Es sind Jungen und Mädchen im Schulalter. Sie reißen die Münder weit auf. Sie strecken die Brustkörbe nach vorn. Sie tragen dunkelblaue Uniformen mit weißen Kragen.
    Das war knapp, denkt Rhett. Die Gratulanten bringen das Lied zu Ende, drei Strophen, werden bedankt und bewinkt, gehen ab. Sie gehen aufrecht, ohne Raffinesse,wie kleine Zinnsoldaten. Rhett versucht, sich vorzustellen, wie sein Sohn, der Arzt, als Kind ausgesehen hat.
    Erst durch ein Kind wird man Teil der Welt.
    »Wo sind sie?«, fragt er.
    »Wer?«
    »Meine Eltern.«
    »Hm … weiß nicht genau … Reich mir mal das dicke Buch dort.«
    Rhett greift nach einem riesigen Buch mit schwarzem Leineneinband und gelblichen Seiten. Schwester Cäcilia legt das Buch in ihren Schoß, dorthin, wo sie vorhin Rhett gelegt hat, leckt die fetten Finger an und blättert.
    »Hier … Alfred und Ella Montiel. Farmer. Gestorben 1999 und 2002 … begraben auf dem Lincoln-Friedhof in Central Leatherstocking, steht hier.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Dummerchen«, sagt Cäcilia, »hast dir immer Geschichten ausgedacht.«
    »In Manhattan«, sagt Rhett.
    Cäcilia streckt die Hand nach seiner aus.
    »Du warst drei Tage alt, als ich dich auf meinem Arm hielt. So klein. Warst mein kleiner Liebling.«
    Sie tätschelt seine Hand.
    Mein kleiner Liebling .
    Rhett spürt plötzlich Heimweh nach der Kargheit seiner Kindheit im Heim. Eltern hin, Eltern her, er ist zu Hause. Er ist jemandes kleiner Liebling. Cäcilias dicke Hand wischt Rhetts Bedenken ab, ein Vater zu sein. Wozu hat ihn sein großer Sohn am Leben gelassen?
    Mein kleiner Liebling .
    Ihre Koseworte fallen wie Samen in Rhett. So wird er sein Kind nennen, sein und Sonnies Kind. Mein kleiner Liebling, wird er es nennen. Dummerchen
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