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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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Arsch wie ein Wüstenkamel, denkt Rhett. Klassischer Apfel, denkt Rhett. Und schämt sich. Das ist aus dem Zögling geworden: ein Weichling, ein Feigling, ein Arschwissenschaftler, der den Schwanz einzieht, wenn es um Verantwortung geht.
    Soll er die Chance ergreifen? Die Fehler, die er mit dem einen Sohn machte, mit dem anderen wieder gutmachen? Ist ihm ein zweites Kind geschickt als Angebot zur Rettung?
    Und wäre es überhaupt ein Sohn?
    Wenn es ein Sohn wird, denkt Rhett, das wäre schrecklich. Wird er nicht die Kiste, in der ich bin, erben, wie man eine Schuppenflechte erbt? Wird er nicht auch ein notorischer Lügner werden?
    Er läuft hinter der Stammeskriegerin her, treppauf, treppab. Kleine hispanische Kinder in Schuluniformen folgen ihm mit neugierigen großen Augen.
    Wenn es eine Tochter wird, denkt Rhett, das wäre schrecklich. Würde sie nicht mit dem ersten Augenaufschlag sehen, was für ein Versager ihr Vater ist? Würde sie nicht ein Abbild Sonnies werden? Rhetts Blick folgt dem schaukelnden Hintern der Pförtnerin vor ihm. Sie könnte meine Tochter sein, denkt er. Meine Tochter. Aber sie ist nicht meine Tochter. Sie scheint auf mich zu stehen. Die Welt wäre ein trauriger Ort, denkt Rhett, ohne junge Frauen mit Vaterkomplex. Ein trauriger Ort für alte Männer. Er strauchelt und hält sich am Treppengeländer fest. Die Stammeskriegerin dreht sich um.
    »Alles in Ordnung?«, fragt sie und legt die Hand auf seine.
    Sie begehrt mich nicht, denkt Rhett. Sie will mich huckepack tragen, füttern, windeln. Ich bin alt, denkt Rhett, der Kreis schließt sich. Mein Waisenhaus wird mein Altersheim.
    Sonnie betritt das Zimmer der Großmutter. Es riecht nach Eukalyptus, Salbe, bitterem Tee. Ihr altes Kinderzimmer. Alles steht noch so wie damals: der Schrank, das Bett, der Tisch. Auf der Tapete sind rote Rhomben. Als Sonnie das Zimmer betritt, auf Zehenspitzen, ist sie wieder das kleine Mädchen.
    Die Großmutter liegt im weißen Bettzeug. Sie sieht aus wie der Vater. Als hätte man die Luft aus dem Vater herausgelassen, seinen Bart abrasiert, seine Brille entfernt. Sie atmet ruhig, mit leisem Röcheln.
    Sonnie setzt sich auf den Boden. Wie alt mag die Großmutter sein? Hundert?
    Eine Greisin im Jugendbett. Ein holzverschlagener Kasten, den sich Sonnie gewünscht hatte, damals, mit sechzehn, und auf dem sie geträumt hatte, mit Rolf zu schlafen. Immer wieder mit Rolf. Aber sie hatte nie mit Rolf in ihrem Jugendbett geschlafen, sondern in einem Ehebett, wenn seine Frau nicht da war, und sie hatte auch mit sonst keinem Jungen geschlafen in diesem Bett, sie hatte auf dem Bett gelegen und Ton Steine Scherben gehört und City und die Rolling Stones, und nun stirbt die Großmutter hier. Sonnie zieht den Koffer an die Knie und öffnet ihn.
    Ihre Schlenkerpuppe, ihr abgegriffenes Storm-Märchenbuch, die vom Großvater geschnitzte Flöte, schwarze Scherenschnitte, ein Weihnachtsbaum, ein Männerprofil, eine Prinzessin, rosa Mädchentagebücher mit vergoldeten Schlössern. Verschlossen. Kein Schlüssel. Sonnie denkt an den »Lady Baltimore«. Wie sie das Messer aus der Küche holte. Wie sie sich schnitt. Wie sie das Messer hob, mit dem Schattenriss einer Killerin, und die Kofferschlösser öffnete.
    Und es ist gerade erst passiert, denkt sie. Ihre Hände zittern. Sie legt die Mädchentagebücher weg. Sie sind schwer. Sie sind voller Tränen.
    Sonnie nimmt das Märchenbuch und schlägt »Der Spiegel des Cyprianus« auf. Die Großmutter atmet rasselnd.
    Sonnie beginnt zu lesen. Sie liest der sterbenden Großmutter ein Märchen vor. Die deutsche Sprache klammert sich an ihre Zunge. Die Rs krachen im Hals.
    … ein Spiegel, unter besondrer Kreuzung der Gestirne und in der Heil bringendsten Zeit des Jahres gefertigt…
    … die Kräfte der Natur sind niemals böse in gerechter Hand …
    … nur eine Sühne, aus des Übeltäters eigenem Blut entsprossen …
    … ein hohes schmales Glas von einem wunderbar bläulichen Lichtglanz …
    … ein Hauch auf dem Glas, sodass sie ihr Antlitz nicht deutlich zu sehen vermochte …
    … rückwärts zu leben, ist auch durch Gottes Hilfe nicht vergönnt …
    Das war ein Notschrei aus meines Junkers Kehle!
    Ich höre nur den roten Wein vom Fasse rinnen.
    Wie schön die Wälder grünen! Und sie sind alle tot!
    Die gute Gräfin und der Graf,
    mein Junker Kuno und nun auch der kleine Wolf!
    Die Großmutter bewegt sich. Sonnie legt das Buch weg. Sie steht auf. Sie tritt ans Bett. Sie setzt sich auf
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