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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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die Bettkante. Sie will nach den winzigen knotigen Händen greifen, die auf der Bettdecke liegen. Sie tut es nicht. Aus zwei Gründen. Da ist die alte Angst, die Großmutter kaputt zu machen. Und da ist Feindschaft.
    Die alte Frau schlägt die Augen auf. Kleine, von Warzen umgebene Augen. Die Großmutter sieht Sonnie an wie eine Fremde.
    »Ich bin’s, Sonja«, sagt Sonnie.
    Die Großmutter blickt wie jemand, der nicht verstehen will. Sonnie spürt etwas, etwas in sich, eine Bewegung in ihr, Sodbrennen, Angst, das Kind, sie weiß es nicht. Es kriecht in ihr hoch. Vielleicht ist es Empathie, und der Tod kriecht in der Großmutter hoch, und Sonnie kann es spüren, als wäre er in ihr.
    Die Großmutter hebt den Kopf, legt ihn schief und sieht aus wie ein stumpfsinniger weißer Vogel. Sonnie nimmt alle Kraft zusammen, um den Blick nicht abzuwenden. Sie stellt sich die Großmutter als junge Frau vor, die Jazz hört und Rachmaninoff, als junge Frau mit Pagenkopf und Swingerkleid, die auf einem Brunnenrand sitzt und mit einem jungen Mann knutscht, als Liebende in einem weichen Bett, als kreißende Soldatenfrau, der Sonnies Vater aus dem Schoß bricht.
    Die Stammeskriegerin legt die Finger um einen goldenen Türknopf. Sie öffnet eine weiß gestrichene Holztür und winkt Rhett, einzutreten. Eine Frau in einer Nonnentracht sitzt auf einem Sofa. Rhett erschrickt. Er erkennt Züge von Schwester Cäcilia. Sie ist sehr alt geworden und sehr dick.
    »Happy Birthday«, sagt Rhett.
    »Rhett Butler, hä?«, sagt sie und lacht. Glucksend. Gutmütig. Offenbar hat man ihr von seinem Lapsus erzählt.
    »Rhett Montiel«, sagt er und hält Schwester Cäcilia die Blumen entgegen.
    »Leg auf den Tisch«, sagt sie. »Lass dich anschaun.«
    Nicht unterbuttern lassen .
    Rhett lässt sich betrachten wie ein nicht mehr frisches Stück Torte.
    »Hm«, sagt Schwester Cäcilia, »hm. Hm. Setz dich, hier, zu mir.«
    Der Zögling setzt sich neben Mutter Oberin aufs Sofa.
    Sie legt ihre schwere dicke Hand auf seine. Ihre Handfläche rubbelt Rhetts Handrücken.
    Sie stellt Fragen wie:
    »Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen, mein Junge?«
    »Wie ist es dir denn ergangen?«
    »Was machst du so, wo lebst du, bist du glücklich?«
    Rhett antwortet ausweichend, knapp.
    Doch Schwester Cäcilias letzte Frage ist:
    »Hast du Kinder?«
    Und da will Rhett nur noch eins. In ihren Schoß. Sich verkriechen im Schoß seiner Mutter. Weinen. Schluchzen. Nie mehr aufstehen. Zurück, hinein, in den Schoß.
    »Nanana, Junge, was denn, was denn? Big boys don’t cry.«
    Da weint Rhett nur noch lauter.
    Lautlos ist der Vater eingetreten. Sonnie steht vorm Bett der Großmutter. Vor ihrem Bett. Dem Jugendbett. Die Großmutter hat ein graurosa eckiges Gesicht, wie die Frauen auf dem Picasso-Gemälde. Der Vater steht hinter Sonnie. Die roten Rhomben hängen hinter dem Vater an der Tapete.
    Niemand und nichts regt sich.
    Duke, spiel mir die ›Black and Tan Fantasy‹.
    Wie lange ist es her, dass sie den Koffer fand? Wann hörte sie auf, sich der Dinge sicher zu sein? War das nicht ein und derselbe Tag?
    Der Vater räuspert sich. »Ist sie …«, fragt er.
    Ist sie was?, würde Sonnie gern sagen. Aber hier wird nichts angesprochen und nichts ausgesprochen.
    Yeah, they’re dead. They’re all messed up.
    »Ich weiß es nicht«, sagt Sonnie.
    Der Vater sagt nichts. Es gibt nichts zu sagen. Alles Sagbare ist gesagt.
    Sonnie beugt sich hinab zum offenen Mund der alten Frau, kann aber keinen Atem hören oder fühlen. Sie nimmt die Decke weg und lauscht an der winzigen, flachen, harten Vogelbrust, die in ein hellblaues Spitzennachthemd verpackt ist. Nichts. Sie macht es wie die dünne Krankenschwester mit dem Koffermann, berührt den Hals mit ihren Fingern. Unter der faltigen Haut strömt nichts, in keine Richtung.
    Kein Hauch von Leben in der Großmutter. Kein Hauch von Mitgefühl in Sonnie.
    Sie macht unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie fürchtet, dass der Geist der bösen Großmutter in ihren Bauch, in ihr Kind, fährt. Auch der Vater macht einen Schritt zurück. Sonnie fühlt sich hohl und taub. Sie wird den Vater nie umarmen. Sie wird ihm keinen späten Enkel schenken. Sie wird ihm nicht den Haushalt führen. Sie wird nicht die Patchworkdecke um seine schmächtigen Schultern legen. Sie wird keine Reiterchen machen.
    Ich leg dich gleich übers Knie.
    Vielleicht will er die Hand ausstrecken, kann aber nicht? Vielleicht hat er ein liebes Wort im Mund, aber der Mund
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