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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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fragt Sonnie. Ihr Herz pocht wild.
    »Willst du denn gar nicht die Oma sehen?«, sagt der Vater.
    »War sie deine einzige Frau?«, fragt Sonnie in plötzlicher Kamikaze-Stimmung.
    »Hast du getrunken?«, fragt der Vater.
    Es ist seine Hilflosigkeit, denkt Sonnie. Es ist seine Hilflosigkeit, die ihn antreibt, mich zu drängen.
    Was soll er sonst mit ihr anfangen? Was soll er ihr erzählen, sie fragen? Was für eine Antwort könnte ein Mensch wie er erwarten, vor der er sich nicht fürchten müsste?
    Sie nähert sich ihm, er ist kleiner als sie. War er denn nicht immer größer, viel größer? Ist er geschrumpft? Ist sie gewachsen?
    »Bist du traurig?«, fragt sie leise. »Bist du traurig, dass deine Mutter stirbt?«
    Darin besteht meine Freiheit, denkt sie, zu lieben, wen ich will, nicht zu lieben, wen ich will.
    Der Vater weicht zurück, als Sonnie die Hand erhebt, um seine Wange zu berühren. Ein Zittern läuft durch seinen Bart. Es riecht intensiv nach Kohlrabi.
    »Lass«, sagt der Vater.
    »Liebst du deine Mutter?«, fragt Sonnie.
    »Tu nicht so, Sonja.«
    »Vermisst du deine Frau?«
    »Sie war auch deine Mutter.«
    »Vermisst du meine Mutter?«
    Der Vater wendet sich ab.
    Ich leg dich gleich übers Knie. Jetzt. Jetzt gleich. Leg ich dich übers Knie.
    Sonnie legt die Hand auf seine Schulter. Ihre Hand hat noch nie auf der Schulter des Vaters gelegen. Die Schulter ist spitz wie Stacheldraht. Der Vater ist das feindliche Land. Das Vaterland.
    »Red mit mir«, sagt sie.
    »Wüsste nicht, was es zu besprechen gibt«, sagt er.
    »Viel«, sagt Sonnie, »alles.«
    »Das fällt dir früh ein«, sagt der Vater. »Es gibt Telefone. Es gibt Flugzeuge. Du hättest anrufen können. Du hättest kommen können. Nichts.«
    Hättehättehätte.
    »Ich bin doch da«, sagt sie.
    »Jetzt ist es zu spät.«
    »Es ist nie zu spät.«
    »Das ist mir zu dumm.«
    Rhett erkennt nichts wieder, nicht die Straße, nicht die Bäume, nicht das Haus. Das Haus ist weiß, weiß verputzt, mit blauen Fensterrahmen. Das Haus ist viel kleiner als in Rhetts Erinnerung. In Rhetts Erinnerung ist das Haus ein riesiger brauner Holzverschlag, ein monströses hohles Holzscheit, in dem es nach Bohnerwachs und Erbsensuppe riecht, das unergründlich ist wie ein Dschungel, mit Kontrollposten an jeder Ecke.
    Dieses kleine weiße Haus, adrett wie ein frisch gepelltes Ei, birgt keine Gefahr, keine Erinnerung. Die Angst durchzuckt Rhett, dass er gar nicht er ist, dass er garnicht hier war, dass jetzt, gleich, ein weiteres Stück seiner Geschichte wegbricht, so wie ein morscher Ast wegbricht unter Menschenfüßen.
    Er tritt ein und geht auf eine Vitrine zu. Eine Pförtnerin blickt ihm erwartungsvoll entgegen. Sie trägt ein enges Kleid und hat das Gesicht einer nigerianischen Stammeskriegerin.
    Rhett stellt sich vor, dass er ein Kind, sein Kind, in einem Korb in dieses Waisenhaus trägt. Sein und Sonnies Baby trägt er hinein, unterschreibt die Papiere, geht weg als freier Mann. Er kann kein Vater sein. Das hat er hinlänglich bewiesen. Er legt ein Lächeln auf.
    »Zu meiner Zeit gab es hier nicht so schöne Empfangsdamen«, sagt er.
    Die Stammeskriegerin sieht ihn fragend an. Ihre rosa Zunge blitzt auf und fährt über ihre Unterlippe, einmal hin, einmal her. Wie ein Insekt, so flink. Glitzernd wie ein Tautropfen.
    »Ich bin hier aufgewachsen«, sagt Rhett. »Rhett Montiel. Ich komme zur Geburtstagsfeier von Schwester Cäcilia.«
    »Oh«, sagt die Pförtnerin hocherfreut. »Das ist aber schön. Die Mutter Oberin freut sich immer über den Besuch von Zöglingen.«
    Das Wort Zögling bereitet Rhett Unbehagen. Ist er ein Zögling? Ein Beugling? Ein Krummling? Nie zuvor ist Rhett die Brutalität des Wortes Erziehung aufgefallen. Er wickelt den Blumenstrauß aus. Gelbe Rosen.
    »Ich erkenne das Haus gar nicht wieder«, sagt er.
    »Oh, natürlich nicht, es ist abgebrannt, in den Achtzigern«, sagt die Pförtnerin. »Dieses Haus ist 1990 neu gebaut wurden. Seitdem ist es für Knaben und Mädchen geöffnet. Es war ja zu Ihren Zeiten ein reines Knabenhaus. Darf ich Ihnen das Papier abnehmen?«
    Zu Ihren Zeiten .
    Mit samtig braunen, schlanken Fingern, mit Fingernägeln lang wie Krallen, greift sie nach Rhetts Blumenpapier. Sie ist so jung, denkt Rhett. Sie ist dreißig Jahre jünger als ich. Wie versehentlich berührt sie seine Hand. Er spürt einen leisen elektrischen Schlag. Beide zucken zurück, sehen sich an, lachen verlegen.
    Dann läuft sie vor ihm her. Schwenkt den
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