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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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mich, wie es Oma geht. Sonst wäre ich ja nicht hier«, sagt Sonnie. Tränen in der Stimme.
    Oma liegt im Sterben.
    »Du bist doch nur fürs Klassentreffen gekommen.«
    Das Profil des Vaters drückt aus, dass Sonnie eine scheinheilige Heulsuse ist. Seine Gene sind in ihrem Kind. Seine und Rhetts Gene sind in ihrem ungeborenen Kind.
    »Du interessierst dich für nichts außer für dich. Das war schon immer so. Nicht für deine Mutter, nicht für Oma, und für mich schon gar nicht.«
    Don’t listen to him. Remember that – do not listen.
    Blut pumpt in Sonnies Schläfen. Kinder kommen nicht schuldig auf die Welt. Kinder kommen unschuldig auf die Welt und werden schuldig gemacht. Sie kommen klug auf die Welt und werden dumm gemacht. Sie kommen stolz auf die Welt und werden klein gemacht. Sie wird dem Vater keinen späten Enkel schenken. Sie wird dem Vater keine Reiterchen machen. Sie würde gern aussteigen. Sie muss aussteigen. Es bleibt ihr keine Wahl.
    Aber sie steigt nicht aus. Ihr Koffer ist im Kofferraum. Sie ist die Tochter, er ist der Vater. Es war ein entsetzlicher Fehler, herzukommen.
    Ami go home.
    Sie sieht aus dem Fenster. Verwaschene Fassaden. Schlecht frisierte Menschen. Grau, alles grau wie Rhetts Filofax, wie seine Augen, wie seine Haare, wie seine Haut. Sie dreht am Knopf des Autoradios. Peitschender Deutschrock. »Guten Tag, ich will mein Leben zurück«, singt eine Frau.
    Der Vater schaltet wieder aus.
    »Wie geht es Oma?«, sagt Sonnie, kleinlaut, besiegt. Sie wischt ihre klebrigen Hände an den Oberschenkeln ab. Sie beißt in ihre Fingerkuppen, bis das Blut kommt. Sie wäre gern eine Waise, so wie Rhett.
    »Noch lebt sie«, sagt der Vater. »Kau nicht an den Nägeln, Sonja.«
    Sonja nimmt die Finger aus dem Mund.
    Erschreckt. Reflexhaft.
    Oma ist nicht totzukriegen.
    »Sie hat gekämpft«, sagt Andy. »Sie hat auf dich gewartet. Fünf Jahre hat sie auf dich gewartet. Sie hat geputzt, Steine geschleppt, in Seidenspinnereien im Schichtdienst geschuftet – und mich irgendwie durchgebracht. Fünf Jahre hat sie nicht angeschafft, keinen Mann in ihr Bett gelassen, dir Briefe geschrieben.«
    »Ich hab nur einen bekommen«, sagt Rhett. Und bereut gleich, dass er es sagte.
    »Und? Was hast du damit gemacht?«
    Rhett senkt den Kopf.
    »Dann starb ihre Mutter«, sagt Andy. »Niemand konnte mehr auf mich aufpassen. Sie hat keinen Job mehr gefunden. Niemand wollte eine Arbeiterin mit Kind. Sie ging wieder anschaffen. Aber sie war nicht mehr jung. Ihr Körper war von der Schwangerschaft und von der schweren Arbeit entstellt. Sie arbeitete dann in einem Billigpuff. Fast nur Touristen, die extra Geld boten für Sex ohne Kondom. Sie hat alles gemacht für Geld.
    Sie wollte, dass ich es mal besser habe. Immerhin war mein Vater ein Farang, ein Weißer. Sie hat sich die abenteuerlichsten Geschichten ausgedacht. Du bist ein Diplomat, immer auf Reisen, daher kommst du nicht. Solche Sachen.
    In den Achtzigern hat sie sich angesteckt. Es ging ziemlich rapide bergab. Sie hat mich angefleht, im Ausland zu studieren. Ich bewarb mich für ein Stipendium in Harvard. Ich bekam es, aber ich wollte nicht weg. Die Krankheit war schon ausgebrochen, meine Mutter wog sechsunddreißig Kilo. Sie fragte mich, ob ich nach Amerika gehen würde, wenn sie tot wäre. Immerund immer wieder fragte sie, ob es wegen ihr sei, dass ich bliebe, und ob ich gehen würde, wenn sie tot wäre. Ich hab irgendwann Ja gesagt, dass ich gehen würde, wenn sie tot wäre. Sie starb noch in derselben Nacht. Das hatte sie in ihrer Hand.«
    Andy zieht aus seiner Hosentasche ein zerknittertes Foto. Es zeigt Rhett mit Pferdeschwanz und Piratentuch, in seinem Arm Kiki, kindlich dünn, das Kinn erhoben, das karminrote Froschmaul gespitzt, gierig, glücklich, kerngesund. Ein Schnappschuss aus einer Karaoke-Bar. Rhett erinnert sich. Er erinnert sich an jene Nacht. Sie sangen »Somethin’ stupid«.
    The time is right
    Your perfume fills my head
    The stars get red
    and oh, the night’s so blue –.
    Das ist Kiki auf dem Foto, das ist er neben ihr, und Rhett nimmt den Schnappschuss aus der Faust der toten Nutte als Beweis seiner Vaterschaft, als Mahnmal seines Versagens.
    Er streckt die Hand aus nach seinem Sohn, der zurückweicht, zurückzuckt.
    Rhett sagt: »Es tut mir Leid«, und er meint es, aber Andy verzieht höhnisch das Gesicht.
    »Von mir kannst du keine Vergebung erwarten, du Mörder.«
    Er zieht einen Revolver aus dem Hosenbund.
    Rhett spürt keine Angst.
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