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Der Königsschlüssel - Roman

Der Königsschlüssel - Roman

Titel: Der Königsschlüssel - Roman
Autoren: Boris Koch
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genähert, hatte sie zu frösteln begonnen und eine Gänsehaut bekommen. Niemals wieder hatte sie kältere Augen gesehen.

    Ihr Großvater hatte ihr früher manchmal von Hexen erzählt, wenn er ihr Angst einflößen wollte. Am Feuer der Schmiede hatten sie gesessen, und wenn die Kohle knisterte und zischte, berichtete er von Trollen und Hexen, die harmlose Kinder in kleine knorrige Bäume verwandelten und ihnen ihr Mal siebenfach in die Rinde ritzten, so dass die Baumkinder bluteten, oder ihnen die Zungen herausschnitten, weil sie zu laut gewesen waren. Manchmal war er mit seinen Geschichten so überzeugend gewesen, dass Vela zu Hause die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Die Mutter hatte dann immer mit dem alten Mann geschimpft und gesagt, er solle ihr nicht solche Flausen in den Kopf setzen - aber Vela war jedes Mal wieder hingegangen, um eine neue Geschichte zu hören.
    Doch etwas Wahres musste dran sein an den Geschichten, denn schon vor Hunderten von Jahren hatte der Mechanische König die Hexerei unter Strafe gestellt, weil früher wohl zu viel Unsinn damit getrieben worden war, gefährlicher, gar tödlicher Unsinn. Und auch, weil die Frösche immer weniger wurden, denn die Hexen benutzten sie sehr gern für ihre Zaubertränke und fingen sie in großen Mengen, hatten sogar eigens ausgeklügelte Froschfallen entwickelt und fast alle Teiche des Landes von Fröschen entvölkert. Das war schädlich, denn Frösche brachten Glück - behaupteten jedenfalls die alten Weiber.
    Doch abgesehen von den schauerlichen Geschichten von Großvater Rendo hatte sich Vela nie groß für Hexerei interessiert. Sie hatte schon immer etwas schmieden oder bauen wollen, und etwas zu bauen, hatte nichts mit Zauberei zu tun, nur mit handwerklichem Können.
    Vela ging zu dem kleinen quadratischen Fenster und sah hinaus. Unter sich konnte sie die Stadt sehen, die Menschenmasse,
die sich im Hof versammelte, und auch die weiß blühenden Mammutzitronenbäume.
    »Ich würde gern mal in den Rauschwald gehen«, flüsterte sie.
    »Warum denn das? Es ist gefährlich, das habe ich dir doch gerade gesagt …«
    »Aus Neugier.«
    Aber das war nur die halbe Wahrheit. Im Grunde würde sie gern mal irgendwohin gehen, Hauptsache nicht zurück. Lange würde es nicht mehr dauern, bis sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und die Stufen des Turms emporsteigen musste. Und wenn sie erst einmal dort oben angekommen war, gäbe es kein Zurück mehr. Das hatte es für ihre Mutter auch nie gegeben.
    »Dein Leben riskieren nur wegen ein bisschen Neugier? Du bist mir wirklich eine …« Kassia verstummte, stellte sich einen Moment neben sie und sah ebenfalls auf die Stadt hinunter. Dann griff sie nach Velas Arm und zog sie aus dem Zimmer. »Los jetzt! Wir kommen sonst noch zu spät!«
    Gemeinsam rannten sie den Flur entlang und die Treppe hinunter, denn der mit samtenen Polstern ausgestattete Aufzug war König, Kanzler und wichtigen Staatsgästen vorbehalten. Schließlich waren sie einzigartig und bedeutsam. Und darüber hinaus von vornehmer Langsamkeit.
    Die letzten drei Stufen nahmen die Mädchen auf einmal, sprangen Hand in Hand und stießen fast mit einer Küchenmagd zusammen, die gerade um die Ecke bog.
    »Passt doch auf, Mädchen!«, rief die Frau ihnen nach. »Benehmt euch gefälligst, ihr seid hier im Schloss und nicht bei den wilden Horden! Also wirklich.«
    Lachend eilten sie weiter bis in die helle Eingangshalle des Schlosses, in der sich schon die Menschen drängten. Das Stimmengewirr
übertönte jedes andere Geräusch, und von draußen drang der Lärm der sich zum Schloss bewegenden Menge herein.
    Vela sah zu der breiten Treppe hinüber, die zum Balkonzimmer emporführte. Dort würde bald der Mechanische König stehen und seinem Volk winken. Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller.
    Kassia folgte ihrem Blick. »Ja, dann...«
    »Willst du nicht auch mitkommen? Dein Vater hat sicher nichts dagegen, und wenn ich doch auch mit rauf darf …«
    Doch Kassia schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht. Wenn er mich dabeihaben wollte, hätte er gefragt. Wahrscheinlich stehe ich nur im Weg. Aber ich wünsch dir viel Spaß. Du kannst mir ja winken.«
    »Das mache ich.«
    Mit einem Lächeln drehte sich Kassia um und ging durch die geöffneten Türen hinaus auf den Hof, um sich einen guten Platz zu sichern.
    Einen Moment zögerte Vela noch, dann stieg sie langsam die Stufen empor. Dabei tastete sie nach dem Hammer an ihrem Gürtel. Sie glaubte nicht, dass ein
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