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Der Königsschlüssel - Roman

Der Königsschlüssel - Roman

Titel: Der Königsschlüssel - Roman
Autoren: Boris Koch
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würde er ihr das Geheimnis der mechanischen Fische mit den bunt schimmernden Muschelaugen im Schlossteich erklären. Sie mochte den Mann.
    Wütend war Vela aus der Werkstatt gestürmt, und jetzt bot ihr Vater ihr einen Platz auf dem Balkon an, wo sie den König ganz aus der Nähe sehen konnte. Das hatte sie noch nie gedurft. Bisher hatte sie immer mit dem Volk im Hof gewartet.
    »Du verstehst dich gut mit deinem Vater, oder?«, fragte Kassia plötzlich hinter ihr.
    »Warum?«
    »Na ja, du sprichst ihn einfach so an, und er fragt dich, ob du mit auf den Balkon kommst.« Sie zuckte mit den Schultern und sah auf ihre Füße. »Ich gehe nur zu meinem Vater, wenn er mich rufen lässt. Er sagt immer, dass ich ihn nicht bei der Arbeit stören soll. Und ich will ihn ja auch nicht stören.«
    Vela sagte nichts dazu. Eigentlich hatte sie Kassia immer beneidet, weil sie in der Stadt lebte, eine Ausbildung machen durfte und ihr Vater immer in der Nähe war. Dass Kassia unglücklich sein könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen.
    Einen Moment lang sah Vela noch den Gang hinunter, obwohl die Männer längst hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, dann ging sie wieder ins Zimmer, um sich für die Zeremonie anzuziehen. Kein einfaches Vorhaben, denn Vela mochte
Kleider nicht besonders. Sie waren hinderlich, wenn man sich hinhocken musste, und wenn sie mit Schmieröl arbeitete, konnte sie nicht die Hände daran abwischen. Bei der Zeremonie gab es sicher kein Schmieröl, aber sie wollte trotzdem kein Kleid tragen. Damit sie nicht vollkommen unpassend gekleidet war, zog sie die gute grüne Leinenhose an und dazu das passende Hemd mit den großen Perlenknöpfen.
    Kassia klatschte begeistert in die Hände, als sie Vela darin sah. »Du siehst aus wie der Wald.«
    »Wie der Wald?«
    »Ja, du weißt schon, der Rauschwald vor der Stadt.«
    »Ich dachte, man muss einen Tag lang gehen, um ihn zu erreichen.«
    Kassia lachte. »Na siehst du, vor der Stadt.«
    Vela schüttelte den Kopf und sah an sich herunter. Sie war noch nie bis zum Rauschwald gekommen. Sie kannte nur die Landschaft zwischen ihrem Dorf und Marinth, die nördliche Route der Linienkutsche, aber auf der anderen Seite der Stadt war sie nie gewesen. Weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten Zeit, um mit ihr dorthin zu reisen, und allein durfte sie es nicht, weil es zu gefährlich war.
    Was genau in diesem Landstrich zu gefährlich war, das wollten sie ihr wieder einmal nicht sagen. Die in der Ebene ansässigen Bauern konnten es wohl nicht sein, und auch die wilden Tiere waren wohl kaum anders, größer oder bissiger als nördlich der Stadt. Wenn von mörderischen Räubern und Ungeheuern die Rede war, hieß es stets, sie lebten im Rauschwald, nicht vor dem Rauschwald.
    »Stimmt es, dass dort Ungeheuer hausen?«, wollte sie von Kassia wissen, die sich gerade ihr festliches goldenes Kleid über den
Kopf zog und dabei an einem Ohrring hängen blieb. Vela half ihr, das Schmuckstück aus dem Stoff zu befreien.
    »O ja, es gibt viele Ungeheuer. Manche sind so schrecklich, dass man von ihrem bloßen Anblick zu Stein erstarrt.«
    »Ist doch Unsinn«, murmelte Vela, der das reichlich übertrieben vorkam.
    »Nein, kein Unsinn. Vater hat es mir selbst gesagt. Und wenn man sich zu weit in den Rauschwald hineinwagt, verirrt man sich. Rettungslos. In der Kanzlei gibt es Berichte von Männern, die wahnsinnig geworden sind, als sie den Wald durchqueren wollten.«
    »Das sagen sie doch über jeden Wald.« Vela trat einen Schritt zur Seite, und Kassia zog das Kleid nach unten.
    »Aber bei diesem stimmt es«, behauptete Kassia fest und ordnete und überprüfte die Zierbänder und Schleifen. »Das Rauschen der Blätter ist wie eine Melodie, die dir nie wieder aus dem Kopf geht, und darüber wirst du verrückt. Das ist der Grund, warum keine Kutschen durch den Rauschwald fahren, sondern nur um ihn herum. Außerdem sagt man, dass dort eine Hexe haust.«
    Auch das sagen sie über jeden Wald, dachte Vela, trotzdem schauderte sie ein wenig. Zu Hause in ihrem Dorf hatte Vela ein einziges Mal eine Frau gesehen, von der ihre Mutter behauptete, dass sie wahrscheinlich eine Hexe sei. Die Frau war auf der Durchreise gewesen und hatte um den Hals einen taubeneigroßen Smaragd getragen, der angeblich Zauberkräfte enthielt. Ansonsten hatte sie ausgesehen wie andere Frauen auch, kein bisschen gefährlich, und doch war sie Vela unheimlich gewesen. Kaum hatte sie sich der vermeintlichen Hexe auf sieben Schritt
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