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Der Königsschlüssel - Roman

Der Königsschlüssel - Roman

Titel: Der Königsschlüssel - Roman
Autoren: Boris Koch
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um zum König zu sprechen. Sie trugen Beschwerden vor, baten um Hilfe oder wollten Geschäfte eröffnen. Die Schlange der Bittsteller reichte manchmal bis in den Hof. Kein Wunder also, wenn der Kanzler ein beschäftigter Mann war.
    »Dein Vater kommt«, sagte sie über die Schulter, aber Kassia erhob sich nicht. Sie blieb auf dem Bett sitzen und streckte die Beine aus.
    Vela zuckte mit den Schultern und sah den Männern entgegen. Beide waren nicht besonders groß, ihr Vater besaß breite Schultern und kräftige Hände. Der Kanzler nicht. Das Haar ihres Vaters war im Nacken zu einem grauen, zerzausten Zopf gebunden, das des Kanzlers sorgfältig frisiert. Ihr Vater trug eine
blaue Hose und ein sonnengelbes Hemd, der Kanzler ein dunkelblaues Seidenhemd zu einer dunklen Hose, die von einem Gürtel zusammengehalten wurde, dessen Schnalle das Wappen des Mechanischen Königs zierte, das goldene Zahnrad auf rotweißem Grund.
    Das Gesicht des Kanzlers besaß etwas Weiches, das es schwer machte, sich an ihn zu erinnern, wenn er wieder aus dem Blickfeld verschwunden war. Woran sich die Leute erinnerten, war seine sanfte Stimme. Es wurde gemunkelt, dass bereits sein Vater, der frühere Kanzler, im Palastchor gesungen hätte, aber Vela konnte sich das nicht vorstellen. Einmal hatte sie ein Gemälde des alten Kanzlers gesehen, und darauf waren seine hellen Augenbrauen fest zusammengezogen, ein mürrischer Zug lag um seinen Mund. Ihr fiel es schwer zu glauben, dass ein so missmutiger Mann an irgendetwas Freude hatte, und schon gar nicht an etwas so Fröhlichem wie Musik und Gesang.
    Als die Männer nur noch wenige Meter von ihr entfernt waren, bemerkte ihr Vater sie endlich. Er blinzelte. »Vela«, rief er und lächelte.
    Sie lächelte zurück und trat einen Schritt weiter in den Gang. Vor ihr blieben die Männer stehen, und der Kanzler musterte sie eingehend.
    »Sie erinnern sich an meine Tochter Vela? Sie ist wieder zu Besuch, um die Zeremonie zu sehen.«
    Nicht nur dafür, dachte Vela. Aber sie sagte nichts, streckte nur artig die Hand aus, und der Kanzler ergriff sie. Seine Hand war warm und der Druck kräftig, auch das hatte sich nicht geändert. Das Alter schien ihm nichts anzuhaben, dieser Griff blieb gleich, büßte nichts von seiner Kraft ein. Es war etwas, das Vela jedes Mal irritierte, weil dieser Händedruck so wenig zum Aussehen
des Mannes passen wollte. An seinem Handgelenk hing an einer kurzen Kette eine schmale, silberne Taschenuhr. Nur wenige Leute waren im Besitz einer solchen Uhr, und nur der Kanzler trug sie offen mit sich herum. Er war ein solch beschäftigter Mann, dass er stets einen Blick darauf haben musste und keine Zeit damit verschwenden wollte, sie mühsam aus der Tasche zu kramen.
    Der Blick des Kanzlers suchte durch die offene Tür seine Tochter, die den Blick zwar erwiderte, aber schwieg. Dann sah er wieder zu Vela. »Schön, schön, dann wünsche ich dir also eine angenehme Zeit.« Er nickte und ging langsam weiter, während ihr Vater noch einen Moment bei ihr stehen blieb.
    »Willst du mit auf den Balkon?«, fragte er.
    Überrascht sah sie ihn an. »Wirklich?«
    »Wenn du magst.«
    Sie nickte eifrig. Natürlich wollte sie auf den Balkon!
    »Dann komm nachher rechtzeitig, und ich sage dir, wo du dich hinstellen kannst.« Mit einem ermutigenden Lächeln klopfte er ihr auf die Schulter und folgte dem Kanzler.
    Vela sah ihnen nach und schüttelte den Kopf. In der Stadt ging wirklich alles schneller. Jetzt war sie erst ein paar Stunden hier, und irgendwie zog alles so rasch an ihr vorbei, dass sie gar nicht richtig mitbekam, was eigentlich passierte.
    Dabei war sie nach ihrer Ankunft noch wütend auf ihren Vater gewesen. In der Werkstatt hatte er sie nur kurz in den Arm genommen, gesagt, dass sie wirklich groß geworden sei, und sie dann aufs Zimmer geschickt.
    »Du kennst den Weg ja noch«, hatte er gesagt, »und vor der Zeremonie gibt es noch viel zu tun.« Das war alles gewesen. Als hätten sie sich nur ein paar Tage nicht gesehen und nicht
ein ganzes Jahr lang! Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, aber der große Tom hatte neben ihr gestanden, und da hatte sie die Tränen runtergeschluckt. Vor diesem Mann, der gemeinsam mit ihrem Vater in der Werkstatt arbeitete, wollte sie sich nicht blamieren. Als sie noch klein gewesen war, hatte er ihr einmal verraten, wie die Wasserpumpen funktionierten, die die Springbrunnen im Schlosspark mit Wasser versorgten - und ihr versprochen, wenn sie älter wäre,
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