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Der Koenig von Rom

Der Koenig von Rom

Titel: Der Koenig von Rom
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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Prozedur, und vom Knast aus ist das kompliziert. Ich hoffe, ich komme bald raus, der verdammte Anwalt bekommt ja ein Heidengeld dafür … in diesem Scheißland kann man sich nicht mal auf das Gesetz verlassen … Sobald wir draußen sind, sieht die Sache anders aus …
    Libanese täuschte leises Bedauern vor. „Aufgenommen“ zu werden, hätte bedeutet, im Namen der Familie auftreten zu können, aber auch der Sklave der Familie zu sein. Doch er hatte ein ganz anderes Ziel. Er wollte eines Tages selbst bestimmen, wer in seine Bande aufgenommen und wer bestraft werden sollte. Niemals Sklave, sondern immer sein eigener Herr sein. Umso besser.
    Aber die Schule der Camorra funktionierte.
    Pasquale erklärte ihm die Struktur der Organisation, des „Systems“, wie er sie nannte. Er erzählte ihm von den lange zurückliegenden Anfängen der Camorra, die zu Zeiten der Spanier gegründet worden, und deren Schutzpatron der Erzengel Michael war, der vom lieben Gott in Gestalt von drei magischen Rittern, Osso, Mastroso und Carcagnoso, auf die Erde geschickt worden war, mit der Aufgabe, edle und gerechte Männer zu rekrutieren (nicht schon wieder die alte Leier!). Er zeigte ihm ein uraltes Pergament, geschrieben in einer unverständlichen Sprache („Das is’ die alte Sprechweise, Sohn, höchst geheim!“) und wo die wichtigsten Regeln der Gruppe angeführt waren, und er erklärte ihm deren angeblich geheimen Sinn. Im Klartext: ’O Masto, dem Boss, musste man unbedingt gehorchen. Solange sich dieser als würdig erwies. Sobald er sich nicht mehr als würdig erwies, musste er ersetzt werden. Während ’o Miracolo begeistert erzählte, musste Libanese sich bemühen, keine zynischen Bemerkungen zu machen. Der liebe Gott, der hl. Michael, das Pergament, das Geheimnis … Was war an einer Bande, bei der du unten bist, solange du schwach bist, und im Augenblick der Stärke den ersetzt, der eben noch über dir war, göttlich, heilig und geheim? Das war keine Bande, das war das Gesetz der Straße, wie es Terribile diktierte, ein Gesetz ohne Flagge und ohne Ehre. Um sich als Hurensohn zu fühlen, musste man nicht die Heiligen bemühen.
    – Vielleicht kommt dir das alles altmodisch vor, fügte ’o Miracolo hinzu, als ob er seine Gedanken lesen könnte, aber es funktioniert, glaub mir, es funktioniert. Es gefällt den Analphabeten und gibt ihrem Leben einen Sinn, sie fühlen sich dann als Teil einer Tradition … wenn du in den Quartieri von Neapel auf die Welt gekommen bist so wie ich, spürst du das instinktiv, Sohn …
    Aber selbst Pasquale ’o Miracolo musste zugeben, dass manches im Argen lag. Die Familien waren zerstritten. Es fiel ihnen schwer, sich zu einigen. Die Sizilianer und die Kalabresen waren schon viel weiter. Sie wussten, was Respekt bedeutete.
    Und nun war es an der Zeit, über Raffaele Cutolo zu sprechen. ’O Miracolo führte Libanese in seine Zelle und drückte ihm ein von Hand beschriebenes Heft in die Hand.
    – Das sind die Gedanken von ’o Professore. Du musst ihn unbedingt kennenlernen, er ist ein großer Mann! Der größte von allen. Gleich nach Jesus und diesem Wissenschaftler, wie heißt er doch gleich? Einstein … Sobald wir draußen sind, stell ich ihn dir vor. Fürs Erste lies mal diese Dokumente.
    Später lag Libanese auf seiner Pritsche, rauchte einen Joint nach dem anderen und las immer wieder die Gedanken und Worte des Professors. Cutolo wollte die Camorra nach dem Vorbild der sizilianischen Mafia umformen. Eine horizontale Organisation in ein vertikales System umwandeln. Er hatte sich selbst zum obersten Leader ernannt. Die Grundidee war ja nicht schlecht, stimmte mit Libaneses Plänen überein. Aber das Ganze klang so schnulzig wie ein mittelmäßiger neapolitanischer Schlager. Die vielen archaischen Rituale waren bloß Zeitverschwendung. In Rom funktionierte das bestimmt nicht. In Rom musste man so schnell und unsichtbar sein wie die Katzen im Portikus der Oktavia, und genauso schlau und gnadenlos wie sie. Aber es musste einen Sinn haben, man durfte sich nicht auf Theaterdonner beschränken. Nicht in Rom.
    Libanese ließ das Heft fallen und schaltete das Radio ein, das ’o Miracolo ihm geschenkt hatte. Mia Martini sang das
Minuetto
von Califfo. Tief im Herzen spürte Libanese einen Stich. Er zog am Joint und dann noch einmal, zornig. Der Marokkaner stieg ihm ins Hirn. Er sah seinen Doppelgänger. Er war reich und mächtig. Er war nackt und blickte von einer wunderschönen Terrasse voller
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