Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten
Autoren: Simon Tolkien
Vom Netzwerk:
Vanessa dachte, dass sie diese geisterhafte Erscheinung niemals als Katya Osman identifiziert hätte, hätte nicht ihre Anwesenheit in Titus’ Haus die Verbindung nahegelegt.
    Katya öffnete den Mund, um zu sprechen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie fühlte sich elend und schwach, und der Raum hatte begonnen, sich um sie zu drehen. Zwei dicke Tränen liefen über ihre Wangen.
    Nachdem Vanessa sich von dem ersten Schreck erholt hatte, durchquerte sie den Raum, legte den Arm um Katya und half ihr, aufrecht zu stehen.
    »Was ist los?«, fragte sie. »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Wasser«, flüsterte Katya. »Wasser.«
    Vanessa verstand nicht gleich und musste erst genau hinhören.
    »Ja, natürlich«, sagte sie, während sie aufstand und hinüber zum Getränketablett auf der Anrichte ging. Doch kaum hatte sie sich umgedreht, brach Katya zusammen und riss ein ornamentverziertes Tischchen mit sich zu Boden. Vanessa konnte kein Wasser entdecken und griff deshalb instinktiv nach einer Soda-Flasche, drückte den Perlmuttgriff und spritzte einen Strahl sprudelndes Wasser dorthin, wo in etwa der Mund des Mädchens war. Kaum eine Sekunde später hustete Katya und öffnete die Augen, doch sie schien nicht zu begreifen, wo sie sich befand. Vanessa kniete sich neben Katya und stützte mit den Händen den Kopf des Mädchens.
    »Was ist los?«, fragte sie ein zweites Mal.
    Katya konnte Vanessas Stimme zwar hören, doch kam sie von sehr weit her. Sie sank hinab auf den Grund eines tiefen, dunklenGewässers und wusste, dass sie bald nicht mehr in der Lage sein würde zu reden. Also kämpfte sie sich mit übermenschlicher Anstrengung durch die zähe, tiefschwarze Dunkelheit hinauf ans Licht des Arbeitszimmers ihres Onkels. Sie hatte zu viel erreicht, um sich jetzt noch aufhalten zu lassen.
    »Sie …«
    »Ja?«, sagte Vanessa und legte ihr Ohr so dicht an Katyas Mund, dass ihre Wange nass wurde von dem Sodawasser auf dem Gesicht des Mädchens.
    »Sie wollen mich umbringen«, sagte Katya hastig. Diese Worte herauszubringen, war allerdings zu viel für sie. Das Beruhigungsmittel, das Jana Claes ihr zur Hälfte in die Vene gejagt hatte, tat seine Wirkung. Katya sackte in Vanessas Armen zusammen und verlor das Bewusstsein.

Kapitel Zwei
    Vanessa nahm ein Sitzkissen vom Sofa und schob es unter den Kopf des Mädchens. Dann ließ sie Katya los, setzte sich und überlegte, was zum Teufel sie jetzt tun sollte. Da kam sie für einen netten romantischen Abend auf Besuch und hielt zehn Minuten nach ihrer Ankunft die Nichte ihres Geliebten im Arm, welche wiederum irgendwelche ungenannten Verfolger beschuldigte, sie töten zu wollen. Vanessa schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Das war doch alles vollkommen irrsinnig. Sie kannte Titus – er war ein anständiger Mensch. Völlig ausgeschlossen, dass er ein Mörder sein sollte. Und doch hatte das Mädchen derart entschlossen gewirkt, so, als hätte sie alles Mögliche auf sich genommen, nur um Vanessa ihr Anliegen vortragen zu können. »Sie wollen mich umbringen«, hatte sie gesagt. Aber wer konnte das sein:
Sie
? Vielleicht drehte es sich da gar nicht um Titus, sondern um seinen Schwager Franz? Um Franz und noch jemand anderen? Denn eine Blutsverwandtschaft zwischen Katya und Franz gab es nicht. Titus hatte Vanessa wenig von seiner Familiengeschichte erzählt, aber sie wusste, dass Katya die Tochter seiner Schwester war, wohingegen Franz der Bruder seiner verstorbenen Frau war, über die er nie redete.
    Vanessa hatte Franz Claes im Lauf des vergangenen Jahres mehrmals getroffen und war mit ihm nie warm geworden. Titus fuhr nur ungern Auto, deshalb fungierte Franz manchmal als Chauffeur und brachte Titus und Vanessa mit dem Bentley ins Restaurant. An seinem Verhalten war nichts auszusetzen – Franz war stets höflich –, und doch fühlte sie sich in seiner Gegenwart jedes Mal aufs Neue unwohl. Schuld daran waren nicht seine Narben, oder zumindest hoffte sie das. Es lag eher daran, dass er ihrem Blick auswich und sie trotzdem dauernd zu beobachten schien. Sie hatte bemerkt, dass alles an ihm überkorrekt war: seine pomadisierte,rabenschwarze Kurzhaarfrisur; die Bügelfalten seiner Hosen; die auf Hochglanz gewichsten Schuhe. Alles sah ausgesprochen männlich aus, dennoch spürte sie darunter etwas Weibliches. Vanessa bekam Gänsehaut, wenn sie nur an ihn dachte. Nicht dass das sonderlich oft der Fall gewesen wäre. Bis jetzt hatte Franz Claes in ihrem Leben so gut wie keine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher