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Der kleine Mann

Der kleine Mann

Titel: Der kleine Mann
Autoren: Erich Kästner
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jetzt, auf den Plakaten und in den Programmheften, Wu Fu und Tschin Tschin und trugen falsche Zöpfe und buntbestickte Kimonos aus knisternder Seide. Sie reisten mit dem zusammengerollten Zirkuszelt, den Elefanten und Raubtieren, den Feuerschluckern, Clowns und Trapezkünstlern, mit den Araberhengsten, Stallburschen, Dompteuren, Balletteusen, Mechanikern, Musikanten und Herrn Direktor Brausewetter aus einer Großstadt in die andere, hatten Erfolg, verdienten Geld und freuten sich mindestens zwanzigmal am Tag, daß sie nicht mehr in Pichelstein waren.

    In Stockholm kam dann Mäxchen zur Welt. Er war so winzig klein, daß ihn die Krankenschwester um ein Haar mit dem Waschwasser in den Ausguß geschüttet hätte. Glücklicherweise brüllte er wie am Spieß, und so ging noch einmal alles gut. Der Stationsarzt betrachtete ihn lange durch ein Vergrößerungsglas, lächelte und sagte schließlich: „So ein hübscher und gesunder Junge! Ich gratuliere!“

    Als Mäxchen sechs Jahre alt war, verlor er seine Eltern. Das war in Paris, und es geschah ganz plötzlich und unerwartet. Die beiden fuhren mit dem Lift auf den Eiffelturm, um die schöne Aussicht zu bewundern. Doch kaum daß sie auf der obersten Plattform standen, erhob sich ein Sturm, der sie in die Luft zerrte und im Nu fortwehte!
    Die anderen Besucher konnten sich, da sie größer waren, an den Gittern der Brüstung festklammern.
    Aber um Wu Fu und Tschin Tschin war es geschehen. Man sah noch, daß sie sich fest an der Hand hielten. Dann waren sie auch schon am Horizont verschwunden.

    Tags darauf schrieben die Zeitungen: ,Zwei kleine Chinesen vom Eiffelturm geweht! Trotz Einsatz von Hubschraubern unauffindbar! Schwerer Verlust für Zirkus Stilke!’
    Am schwersten war der Verlust freilich für Mäxchen, der seine Eltern sehr, sehr lieb gehabt hatte. Er weinte viele winzige Tränen in seine winzigen Taschentücher. Und zwei Wochen später, als man auf dem Friedhof, in einem Elfenbeinkästchen, die zwei schwarzen Chinesen-zöpfchen begrub, die ein portugiesischer Dampfer hinter den Kanarischen Inseln aus dem Ozean gefischt hatte, da wäre Mäxchen vor lauter Kummer am liebsten mitgestorben.
    Es war ein seltsames Begräbnis. Alle Zirkusleute nahmen daran teil: die Familie Bambus in ihren Kimonos, der Dompteur der Löwen und Tiger mit einem Trauerflor an der Peitsche, der Kunstreiter Galoppinski auf seinem Rapphengst Nero, die Feuerschlucker mit brennenden Fackeln, der Herr Direktor Brausewetter mit Zylinder und schwarzen Glacéhandschuhen, die Clowns mit ernstgeschminkten Gesichtern und vor allem, als Redner, der berühmte Zauberkünstler Professor Jokus von Pokus.
    Zum Schluß seiner feierlichen Ansprache sagte der Professor: „Die zwei kleinen Kollegen, um die wir trauern, haben uns ihr Mäxchen als Vermächtnis hinter lassen. Kurz vor ihrem verhängnisvollen Ausflug auf den Eiffelturm brachten sie den Jungen in mein Hotelzimmer und baten mich, auf ihn gut aufzupassen, bis sie wiederkämen. Heute wissen wir nun, daß sie nicht wiederkommen können. Deshalb werde ich auf ihn achtgeben müssen, solange ich lebe, und ich will es von Herzen gerne tun. Ist dir das recht, mein Kind?“
    Mäxchen, der aus der Brusttasche des Zaubererfracks herausschaute, rief schluchzend: „Jawohl, lieber Jokus, es ist mir recht!“

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    Da weinten alle anderen vor Schmerz und Freude. Und den Clowns verschmierten die Tränen die Schminke in den Gesichtern. Dann zauberte der Professor fünf große Blumensträuße aus der Luft und legte sie auf das kleine Elterngrab. Die Feuerschlucker steckten die brennenden Fackeln in den Mund, so daß die Flammen auslöschten. Die Zirkuskapelle spielte den Gladiatorenmarsch. Und schon liefen alle, vom Kunstreiter Galoppinski auf dem Rappen Nero angeführt, schnell ins Zirkuszelt zurück. Denn es war Mittwoch.

    Und mittwochs, samstags und sonntags sind, wie jedermann weiß, auch am Nachmittag Vorstellungen. Für Kinder. Zu verbilligten Preisen.

2. Kapitel
Die Streichholzschachtel auf dem Nachttisch / Minna, Emma und Alba / Sechzig Gramm Lebendgewicht und trotzdem kerngesund / Der Kleine Mann will in die Schule gehen / Ärger in Athen und Brüssel / Unterricht auf der Bockleiter / Bücher, klein wie Briefmarken.

    Daß Mäxchen nachts in einer Streichholzschachtel schlief, habe ich wohl schon erzählt. Anstelle der sechzig Streichhölzer, die üblicherweise drinliegen, enthielt sie ein Maträtzchen aus Watte, ein kleines Stück Kamelhaardecke und ein
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