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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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ihnen konnte keine auch nur Auto fahren, und die arme Tante Libby hatte solche Angst vor Geräten und mechanischen Apparaten jeglicher Art, dass sie schon bei der Aussicht darauf, eine Gasheizung anzuzünden oder eine Glühbirne zu wechseln, in Tränen ausbrach. Sie waren zwar fasziniert von der Kamera, aber auch auf der Hut vor ihr, und sie bewunderten den unbekümmerten Wagemut ihrer Schwester im Umgang mit diesem männlichen Instrument, das Laden und Zielen und Abdrücken erforderte wie eine Pistole. »Seht euch Edith an«, sagten sie dann, wenn sie sahen, wie sie den Film zurückspulte oder mit fachmännischer Geschwindigkeit die Schärfe einstellte. »Es gibt nichts, was Edith nicht kann.«
    Es war eine Familienweisheit, dass Edith bei aller Brillanz auf vielfältigen Fachgebieten keine besonders glückliche Hand mit Kindern hatte. Sie war stolz und ungeduldig, und ihre Art ließ wenig Platz für Herzlichkeit. Charlotte, ihr einziges Kind, lief immer zu ihren Tanten (vorzugsweise zu Tante Libby), wenn sie Trost, Zuneigung und Bestätigung brauchte. Harriet, das Baby, hatte noch kaum erkennen lassen, dass sie irgendjemanden bevorzugte, aber Allison graute es vor den energischen Versuchen ihrer Großmutter, sie zur Aufgabe ihrer Schweigsamkeit anzustacheln, und sie weinte, wenn sie bei ihr bleiben musste. Aber, oh, wie hatte Charlottes Mutter
den kleinen Robin geliebt, und wie hatte er ihre Liebe erwidert. Sie – eine würdevolle Dame mittleren Alters – spielte mit ihm im Vorgarten Fangen, sie fing Schlangen und Spinnen in ihrem Garten und gab sie ihm zum Spielen, und sie brachte ihm lustige Lieder bei, die sie als Krankenschwester im Zweiten Weltkrieg von den Soldaten gelernt hatte.
    EdieEdieEdieEdieEdie! Sogar ihr Vater und ihre Schwester nannten sie Edith, aber Edie war der Name, den er ihr gegeben hatte, als er gerade hatte sprechen können und kreischend vor Vergnügen wie toll auf dem Rasen umhergerannt war. Einmal, als Robin ungefähr vier war, hatte er sie ganz ernst altes Mädchen genannt. »Armes altes Mädchen«, hatte er gesagt, gravitätisch wie eine Eule, und ihr dabei mit seiner kleinen, sommersprossigen Hand die Stirn getätschelt. Charlotte wäre es nicht im Traum eingefallen, mit ihrer schneidigen, geschäftsmäßigen Mutter so vertraulich umzugehen, schon gar nicht, wenn sie mit Kopfschmerzen im Schlafzimmer lag; aber die Sache hatte Edie sehr erheitert, und inzwischen war es eine ihrer Lieblingsgeschichten. Ihr Haar war grau, als er zur Welt kam, aber als sie jünger war, war es leuchtend kupferrot gewesen, genau wie Robins. Für Robin Rotkehlchen schrieb sie auf die Schildchen an seinen Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken, oder Für meinen roten Robin. In Liebe von deinem armen alten Mädchen.
    EdieEdieEdieEdieEdie! Er war jetzt neun, aber seine traditionelle Begrüßung, sein Liebeslied an sie, war zu einem Scherzwort in der Familie geworden, und er sang es quer durch den Garten, wie er es immer tat, als sie an jenem Nachmittag, an dem sie ihn zum letzten Mal sah, auf die Veranda herauskam.
    »Komm und gib dem alten Mädchen einen Kuss«, rief sie. Für gewöhnlich ließ er sich gern fotografieren, aber manchmal war er scheu – dann kam nichts als ein verwischter Rotschopf, spitze Ellenbogen und Knie auf hastiger Flucht dabei heraus –, und als er jetzt die Kamera an Edies Hals sah, nahm er Reißaus und bekam vor Lachen einen Schluckauf.
    »Komm zurück, du Schlingel!«, rief sie, und dann hob sie spontan die Kamera und drückte trotzdem auf den Auslöser. Es
war das letzte Bild, das sie von ihm hatten. Verschwommen. Eine flache grüne Fläche, leicht schräg, mit einem weißen Geländer und dem wogenden Glanz eines Gardenienbusches scharf im Vordergrund, am Rande der Veranda. Ein düsterer, gewitterfeuchter Himmel, ineinander verfließendes Indigo und Schiefergrau, wallende Wolken, umstrahlt von Zacken aus Licht. In der Ecke des Bildes rannte Robin, ein verwischter Schatten mit dem Rücken zum Betrachter, über den nebligen Rasen hinaus und seinem Tod entgegen, der – beinahe sichtbar – dastand und ihn erwartete, an dem dunklen Fleck unter dem Tupelobaum.

    Tage später, als sie im verdunkelten Zimmer lag, war im Nebel der Tabletten ein Gedanke durch Charlottes Kopf gehuscht. Immer wenn Robin irgendwo hinging – zur Schule, zu einem Freund, zu Tante Edie, um den Nachmittag bei ihr zu verbringen  –, war es ihm sehr wichtig gewesen, auf Wiedersehen zu sagen, und zwar auf
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