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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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zärtliche und häufig ausgedehnte und zeremonielle Art und Weise. Sie hatte tausend Erinnerungen an kleine Zettel, die er geschrieben hatte, an Kusshände aus Fenstern, an seine kleine Hand, die vom Rücksitz eines abfahrenden Wagens auf und ab flatterte: Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! Als Baby hatte er sehr viel eher bye-bye als hello sagen können, und er hatte die Leute damit begrüßt und sich von ihnen verabschiedet. Charlotte kam es besonders grausam vor, dass es diesmal kein Aufwiedersehen gegeben hatte. Sie war so außer sich gewesen, dass sie sich nicht mehr klar an ihren letzten Wortwechsel mit Robin entsinnen konnte, ja, nicht einmal daran, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, während sie doch etwas Konkretes brauchte, irgendeine kleine, unwiderrufliche Erinnerung, die die Hand in ihre schieben und sie begleiten konnte, wenn sie jetzt blind durch diese jäh entstandene Wüste des Daseins stolperte, die sich vom gegenwärtigen Augenblick bis zum Ende ihres Lebens vor ihr ausdehnte. Halb von Sinnen vor Trauer und Schlaflosigkeit, hatte sie unentwegt mit Libby geplappert (Tante Libby war es gewesen,
die sie über diese Zeit hinweggebracht hatte, Libby mit ihren kühlen Tüchern und ihrem Lavendelöl, Libby, die Nacht um Nacht mit ihr wach geblieben war, Libby, die nie von ihrer Seite gewichen war, Libby, die sie gerettet hatte), denn weder ihr Ehemann noch sonst jemand hatte ihr auch nur den fadenscheinigsten Trost spenden können, und auch wenn ihre eigene Mutter (die auf Außenstehende den Eindruck machte, sie »verkrafte die Sache gut«) sich in ihren Gewohnheiten und ihrer Erscheinung nicht veränderte und weiter tapfer ihren täglichen Pflichten nachging, würde sie doch nie wieder so sein wie früher. Der Schmerz hatte sie versteinert, und es war schrecklich mitanzusehen. »Raus aus dem Bett, Charlotte!«, blaffte sie und stieß die Fensterläden auf. »Hier, trink eine Tasse Kaffee, bürste dir das Haar, du kannst nicht ewig so herumliegen.« Und sogar die unschuldige alte Libby erschauerte manchmal vor der gleißenden Kälte in Edies Blick, wenn sie sich vom Fenster abwandte und ihre Tochter anschaute, die reglos im dunklen Schlafzimmer lag: wild und erbarmungslos wie Arcturus.
    »Das Leben geht weiter.« Das war einer von Edies Lieblingssätzen. Es war eine Lüge. In jenen Tagen erwachte Charlotte immer noch in einem medikamentösen Delirium, um ihren toten Sohn für die Schule zu wecken, und fünf- oder sechsmal in der Nacht schrak sie aus dem Bett hoch und rief seinen Namen. Und manchmal glaubte sie einen oder zwei Augenblicke lang, Robin sei oben und das alles nur ein böser Traum. Aber wenn ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie das scheußliche, verzweifelte Durcheinander (Papiertaschentücher, Pillenfläschchen, welke Blütenblätter) auf dem Nachttisch verstreut sah, fing sie wieder an zu schluchzen – obwohl sie schon geschluchzt hatte, bis ihr die Rippen wehtaten, denn Robin war nicht oben und auch sonst an keinem Ort, von dem er je wieder zurückkommen würde.
    Er hatte Spielkarten zwischen die Speichen seines Fahrrads geklemmt. Als er noch lebte, war es ihr nicht klar gewesen, aber durch dieses Knattern hatte sie sein Kommen und Gehen verfolgen können. Ein Kind in der Nachbarschaft hatte
ein Fahrrad, das sich genauso anhörte, und immer wenn sie es in der Ferne hörte, überschlug sich ihr Herz für einen schwebenden, ungläubigen Moment von prachtvoller Grausamkeit.
    Hatte er nach ihr gerufen? Der Gedanke an seine letzten Augenblicke zerstörte ihre Seele, und trotzdem konnte sie an nichts anderes denken. Wie lange? Hatte er leiden müssen? Den ganzen Tag starrte sie an die Schlafzimmerdecke, bis die Schatten darüber hinwegschlichen, und dann lag sie wach und starrte im Dunkeln auf das Schimmern des Leuchtzifferblatts.
    »Du tust niemandem auf der Welt einen Gefallen, wenn du den ganzen Tag weinend im Bett liegst«, sagte Edie energisch. »Du würdest dich sehr viel besser fühlen, wenn du dich anziehen und zum Frisör gehen würdest.«
    In ihren Träumen war er ausweichend und distanziert, enthielt ihr irgendetwas vor. Sie sehnte sich nach einem Wort von ihm, aber er schaute ihr nie in die Augen, sprach nie. Libby hatte ihr während der schlimmsten Tage immer wieder etwas ins Ohr gemurmelt, etwas, das sie nicht verstanden hatte. Es war uns nie bestimmt, ihn zu haben, Darling. Er hat nicht uns gehört, und wir sollten ihn nicht behalten. Es war unser
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