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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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eifersüchtigen Ehemännern ermordet worden, aber das waren alte Skandale, und die Beteiligten waren längst verstorben. Und ab und zu fand sich ein toter Schwarzer in Alexandria, aber diese Morde wurden (wie die meisten Weißen eilig betonten) im Allgemeinen von anderen Negern begangen, und es ging dabei in erster Linie um Negerangelegenheiten. Ein totes Kind war da etwas anderes – Furcht erregend für alle, ob Arm oder Reich, Schwarz oder Weiß –, und niemand konnte sich vorstellen, wer so etwas getan haben sollte oder warum er es getan hatte.
    In der Nachbarschaft redete man von einem Geheimnisvollen Schleicher, und Jahre nach Robins Tod behaupteten immer noch Leute, sie hätten ihn gesehen. Allen Berichten zufolge war er ein Riese, aber darüber hinaus gingen die Beschreibungen auseinander. Manchmal war er schwarz, manchmal weiß, und zuweilen wies er besonders anschauliche Merkmale auf: einen fehlenden Finger, einen Klumpfuß, eine rote Narbe quer über der Wange. Es hieß, er sei ein bösartiger Handlanger, der das Kind eines texanischen Senators erwürgt und an die Schweine verfüttert habe; ein ehemaliger Rodeoclown, der kleine Kinder mit ausgefallenen Lassotricks in den Tod locke; ein schwachsinniger Psychopath, entflohen aus der psychiatrischen Klinik in Whitfield und in elf Staaten polizeilich gesucht. Aber auch wenn die Eltern in Alexandria ihre Kinder vor ihm warnten, und auch wenn man seine massige Gestalt regelmäßig zu Halloween in der Nähe der George Street umherhinken sah, blieb der Schleicher eine schemenhafte Gestalt. Nach dem Tod des kleinen Cleve hatte man jeden Tramp, jeden Landstreicher, jeden Spanner im Umkreis von hundert Meilen festgenommen und verhört, aber die Ermittlungen
hatten nichts ergeben. So dachte niemand gern daran, dass ein Mörder frei herumlief, und die Angst blieb bestehen. Vor allem befürchtete man, dass er immer noch in der Nachbarschaft herumschlich: dass er in einem diskret geparkten Auto saß und spielende Kinder beobachtete.
    Die Leute in der Stadt redeten über diese Dinge. Robins Familie verlor darüber nie auch nur ein Wort.
    Robins Familie sprach über Robin. Sie erzählten sich Anekdoten aus seinen Babytagen, aus dem Kindergarten, aus der Baseballzeit in der Little League, all die niedlichen und lustigen und bedeutungslosen Anekdoten, an die man sich erinnerte, die er irgendwann gesagt oder getan hatte. Seine Tanten entsannen sich an Unmengen von Bagatellen: an Spielsachen, die er gehabt, an Kleider, die er getragen hatte, an Lehrer, die er geliebt oder gehasst hatte, an Spiele, die er gespielt, und an Träume, die er erzählt hatte, an Dinge, die er gemocht, sich gewünscht oder am meisten geliebt hatte. Manches davon traf zu, manches eher nicht, und vieles davon konnte niemand so genau wissen, aber wenn die Cleves sich einmal entschlossen hatten, in irgendeiner subjektiven Angelegenheit übereinzustimmen, wurde diese, automatisch und wohl unwiderruflich, zur Wahrheit, ohne dass jemandem die kollektive Alchimie bewusst war, die dies bewirkte.
    Die mysteriösen, widersprüchlichen Umstände von Robins Tod gehorchten dieser Alchimie nicht. So stark die redigierenden Instinke der Cleves auch waren, es gab doch keinen Plot, der sich den Fragmenten überstülpen ließe, keine Logik, aus der man etwas hätte ableiten können, keine Lektion, die im Rückblick zu lernen gewesen wäre, keine Moral. Robin selbst, oder das, was sie von ihm in Erinnerung hatten, war alles, was sie besaßen, und die erlesene Schilderung seines Charakters – im Laufe mehrerer Jahre auf das Sorgsamste ausgeschmückt – war ihr größtes Meisterwerk. Weil er ein so einnehmender kleiner Stromer gewesen war und weil gerade seine Schrullen und Eigenheiten der Grund dafür gewesen waren, dass sie ihn alle so sehr geliebt hatten, wurde die impulsive Aufgewecktheit des lebenden Robin in ihren Rekonstruktionen mitunter schmerzhaft klar sichtbar: Fast war es, als sause er auf seinem Fahrrad
die Straße hinunter an ihnen vorbei, vorgebeugt, mit flatternden Haaren, hart und wild in die Pedale tretend, sodass das Fahrrad hin- und herwackelte – ein launisches, kapriziöses, lebhaftes Kind. Aber diese Klarheit war irreführend, sie verlieh einem größtenteils frei erfundenem Bild trügerische Glaubhaftigkeit, denn an anderen Stellen war die Geschichte offenkundig ausgehöhlt und leicht zu durchschauen, strahlend, aber seltsam konturlos, wie es das Leben von Heiligen manchmal ist.
    »Wie gut
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