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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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hätte Robin das gefallen!«, sagten die Tanten immer liebevoll. »Wie hätte Robin gelacht!« In Wahrheit war Robin ein flatterhaftes und unbeständiges Kind gewesen, melancholisch in einzelnen Augenblicken, geradezu hysterisch in anderen, und im Leben hatte diese Unberechenbarkeit einen großen Teil seines Charmes ausgemacht. Aber seine jüngeren Schwestern, die ihn im eigentlichen Sinne nie gekannt hatten, wuchsen auf mit der völligen Gewissheit über die Lieblingsfarbe ihres toten Bruders (Rot), über sein Lieblingsbuch (»The Wind in the Willows») und seine Lieblingsfigur darin (Mr. Toad). Sie kannten sein Lieblingseis (Schokolade) und seine Lieblings-Baseballmannschaft (die Cardinals) und tausend andere Dinge, die sie – als lebendige Kinder, die heute am liebsten Schokoladeneis essen und morgen Pfirsicheis bevorzugen  – nicht einmal genau von sich selbst hätten sagen können. Infolgedessen war die Beziehung zu ihrem toten Bruder von höchst intimer Natur; sein starkes, leuchtendes, unveränderliches Ich strahlte beständig, verglichen mit dem Wankelmut ihres eigenen Charakters und den Launen der Menschen, die sie kannten. Sie wuchsen also auf in dem Glauben, dies sei auf irgendeinen seltenen, engelsgleichen Glanz der Schöpfung in Robins Wesen zurückzuführen und keineswegs auf die Tatsache, dass er tot war.

    Robins kleinere Schwestern hatten keine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder, als sie älter wurden, und auch untereinander unterschieden sie sich sehr.
    Allison war jetzt sechzehn. Aus dem mausartigen kleinen
Mädchen, das leicht blaue Flecken und Sonnenbrand bekam und über fast alles in Tränen ausbrach, war ganz unerwartet die Hübsche geworden: lange Beine, rehbraunes Haar und große, samtige, rehbraune Augen. Ihr ganzer Charme lag in ihrer Unbestimmtheit. Sie sprach leise und bewegte sich schleppend, und ihre Züge waren verschwommen und verträumt, und für ihre Großmutter Edie, die funkelnde Farbigkeit schätzte, war sie eine ziemliche Enttäuschung. Allisons Blüte war zart und kunstlos wie die Blüte des Grases im Juni und bestand ganz und gar aus einer jugendlichen Frische, die (was niemand besser wusste als Edie) als Erstes vergehen würde. Sie war eine Tagträumerin, sie seufzte oft, ihr Gang war ungelenk, schlurfend und mit einwärts gewandten Zehen, und ihre Art zu sprechen war nicht besser. Immerhin, sie war hübsch auf ihre scheue, milchweiße Art, und die Jungen in ihrer Klasse hatten angefangen, sie anzurufen. Edie hatte sie beobachtet, wie sie (den Blick gesenkt, das Gesicht glühend rot) den Hörer zwischen Schulter und Ohr klemmte, mit der Spitze ihres Oxfordschuhs vor und zurück über den Teppich scharrte und vor Verlegenheit stammelte.
    Wie schade, klagte Edie laut, dass ein so reizendes Mädchen ( reizend , wie Edie es aussprach, trug unüberhörbar die Last von schwach und anämisch in sich) eine so schlechte Haltung hatte. Allison solle darauf achten, dass ihr die Haare nicht dauernd in die Augen fielen. Allison solle die Schultern zurücknehmen und aufrecht und selbstbewusst dastehen, statt in sich zusammenzusacken. Allison solle lächeln, den Mund aufmachen, Interessen entwickeln, die Leute über ihr Leben befragen, wenn ihr sonst nichts Interessantes zu sagen einfalle. Solche Ratschläge, wenngleich gut gemeint, wurden häufig in der Öffentlichkeit und mit solcher Ungeduld erteilt, dass Allison weinend aus dem Zimmer stolperte.
    »Na, mir ist es egal«, sagte Edie dann laut in die Stille, die solchen Auftritten folgte. »Jemand muss ihr ja beibringen, wie man sich benimmt. Wenn ich ihr nicht so im Nacken säße, wäre das Kind nicht in der zehnten Klasse, das kann ich euch sagen.«
    Das stimmte. Allison war zwar nie sitzen geblieben, aber sie war doch mehrmals gefährlich nah davor gewesen, besonders in der Grundschule. Träumt viel, stand unter »Betragen« in Allisons Zeugnissen. Unordentlich. Langsam. Setzt sich nicht ein. »Tja, ich schätze, da müssen wir uns einfach ein bisschen mehr anstrengen«, sagte Charlotte vage, wenn Allison wieder mit schlechten Noten nach Hause kam.
    Allison und ihrer Mutter schienen die schlechten Zeugnisse nichts auszumachen, Edie dafür aber umso mehr, und zwar in einem alarmierenden Ausmaß. Sie marschierte in die Schule und verlangte Besprechungen mit den Lehrern; sie quälte Allison mit Lektürelisten, Übungskarten und Bruchrechnen, und sie korrigierte Allisons Aufsätze und Physikprojekte mit rotem Stift – noch jetzt, wo sie
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