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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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vernachlässigte Details einfügen konnte: wie sie und Harriet (zum Beispiel) aus den rosa Blüten, die vom erfrorenen Holzapfelbaum heruntergefallen waren, die Nase und die Ohren für den Schnee-Osterhasen gemacht hatten. Diese Geschichten waren ihr ebenso vertraut wie die Geschichten aus der Kindheit ihrer Mutter oder die Geschichten aus Büchern. Aber keine davon schien auf wirklich fundamentale Weise mit ihr verbunden zu sein.
    Die Wahrheit war – und das war etwas, das sie niemals irgendjemandem gegenüber eingestand –, dass es furchtbar viele Dinge gab, an die Allison sich nicht erinnern konnte. Sie hatte keine klare Erinnerung daran, im Kindergarten gewesen zu sein oder im ersten Schuljahr, oder an sonst irgendetwas, wovon sie eindeutig hätte sagen können, es habe sich ereignet, bevor sie acht gewesen war. Es war ein äußerst beschämender Umstand, einer, den sie (großenteils erfolgreich) zu verschleiern bemüht war. Ihre kleine Schwester Harriet behauptete, sich an Dinge aus ihrem ersten Lebensjahr zu entsinnen.
    Obwohl sie nicht einmal sechs Monate alt gewesen war, als
Robin starb, sagte Harriet, sie könne sich an ihn erinnern, und Allison und die übrigen Cleves glaubten, dass dies wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Ab und zu rückte Harriet mit irgendeiner obskuren, aber erschreckend akkuraten Kleinigkeit heraus – mit einem Detail zu Wetter oder Kleidung oder zu dem Essen auf einer Geburtstagsparty, bei der sie nicht einmal zwei Jahre alt gewesen war –, und alle hörten mit offenem Mund zu.
    Aber Allison konnte sich überhaupt nicht an Robin erinnern. Das war unverzeihlich. Sie war fast fünf Jahre alt gewesen. Und sie konnte sich auch nicht an die Zeit nach seinem Tod erinnern. Sie wusste detailliert über die ganze Affäre Bescheid: über die Tränen, den Stoffhund, ihr Schweigen. Sie wusste, wie der Kriminalpolizist aus Memphis – ein großer, kamelgesichtiger Mann mit vorzeitig weiß gewordenem Haar, der Snowy Olivet geheißen hatte – ihr Bilder von seiner eigenen Tochter namens Celia gezeigt und ihr Mandel-Schokoriegel aus einer Großhandelspackung in seinem Wagen geschenkt hatte, und wie er ihr auch andere Bilder gezeigt hatte, Bilder von farbigen und von weißen Männern mit Bürstenhaarschnitten und schweren Augenlidern. Wie sie, Allison, auf Tattycorums blausamtenem Plaudersofa gesessen hatte – sie hatte damals bei Tante Tat gewohnt, sie und das Baby, denn ihre Mutter lag noch im Bett –, und wie sie mit tränenüberströmtem Gesicht die Schokolade von den Mandelriegeln abgebröckelt hatte und kein Wort hatte sagen wollen. Sie wusste das alles, nicht, weil sie sich daran erinnerte, sondern weil Tante Tat es ihr erzählt hatte, und zwar viele Male, in ihrem Sessel, den sie dicht vor die Gasheizung gestellt hatte, wenn Allison sie an den Winternachmittagen nach der Schule besuchen kam; ihre schwachen, alten, sherrybraunen Augen waren auf einen Punkt auf der anderen Seite des Zimmers gerichtet, und ihre Stimme klang liebevoll, geschwätzig, in Erinnerungen schwelgend, als erzähle sie eine Geschichte über jemanden, der nicht anwesend war.
    Die scharfäugige Edie war weder so liebevoll noch so tolerant. Die Geschichten, die sie Allison vorzugsweise erzählte, hatten oft einen eigentümlich allegorischen Unterton.
    »Die Schwester meiner Mutter«, pflegte sie anzufangen, wenn sie Allison vom Klavierunterricht nach Hause fuhr, ohne je den Blick von der Straße zu wenden, und dabei hielt sie die kraftvolle, elegante Habichtsnase hoch in die Luft, »die Schwester meiner Mutter kannte einen kleinen Jungen namens Randall Schofield, dessen Familie bei einem Tornado zu Tode kam. Er kam von der Schule nach Hause, und was glaubst du, was er sah? Sein Haus war vom Wind in Trümmer gelegt worden, und die Neger, die auf dem Anwesen arbeiteten, hatten die Leichen seines Vaters und seiner Mutter und seiner drei kleinen Brüder aus der Ruine gezogen, und da lagen sie alle, so blutig, wie man es sich nur denken kann, und nicht einmal mit Laken zugedeckt, Seite an Seite ausgestreckt nebeneinander wie ein Xylophon. Einem der Brüder fehlte ein Arm, und in der Schläfe der Mutter steckte ein eiserner Türstopper. Na, und weißt du, was mit dem kleinen Jungen passiert ist? Er ist stumm geworden. Und er hat die nächsten sieben Jahre kein Wort gesprochen. Mein Vater sagte, er trug immer einen Stapel Hemdenpappen und einen Fettstift bei sich, und er musste jedes Wort, das er zu irgendjemandem
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