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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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sagen wollte, aufschreiben. Der Mann, der in der Stadt die Reinigung führte, schenkte ihm diese Hemdenpappen.«
    Edie erzählte die Geschichte gern. Es gab Variationen davon, wie zum Beispiel Kinder, die vorübergehend blind geworden waren oder sich die Zunge abgebissen oder den Verstand verloren hatten, nachdem sie diesem oder jenem schrecklichen Anblick ausgesetzt gewesen waren. Aber sie hatten alle einen leicht vorwurfsvollen Unterton, ohne dass Allison je genau hätte sagen können, worin er bestand.
    Allison verbrachte die meiste Zeit allein. Sie hörte Schallplatten. Sie machte Collagen aus Bildern, die sie aus Illustrierten ausgeschnitten hatte, und krumme Kerzen aus geschmolzenen Malstiften. Sie zeichnete Ballerinen und Pferde und Mäusebabys auf die Ränder in ihrem Geometrieheft. Beim Mittagessen saß sie an einem Tisch mit einer Gruppe von ziemlich beliebten Mädchen, aber außerhalb der Schule traf sie sich selten mit ihnen. Oberflächlich betrachtet, war sie
eine von ihnen: Sie war gut gekleidet und hatte eine klare Haut, und sie wohnte in einem großen Haus in einer hübschen Straße, und wenn sie auch nicht munter oder lebhaft war, so hatte sie doch nichts an sich, was Abneigung hätte erregen können.
    »Du könntest so beliebt sein, wenn du wolltest«, sagte Edie, die jeden Trick kannte, wenn es um die gesellschaftliche Positionierung ging, selbst auf dem Niveau des zehnten Schuljahrs. »Das beliebteste Mädchen in deiner Klasse, wenn du nur Lust hättest, dich darum zu bemühen.«
    Allison wollte sich nicht darum bemühen. Sie wollte nicht, dass die anderen Kinder gemein zu ihr waren oder sich über sie lustig machten, aber solange niemand sie behelligte, war sie glücklich. Und von Edie abgesehen, behelligte sie auch niemand weiter. Sie schlief viel. Sie ging allein in die Schule. Sie spielte mit den Hunden, denen sie unterwegs begegnete. Nachts träumte sie von einem gelben Himmel und einem weißen Ding davor, das aussah wie ein aufgeblähtes Laken, und diese Träume beunruhigten sie sehr, aber sie vergaß sie, wenn sie aufwachte.
    Allison verbrachte viel Zeit bei ihren Großtanten, an den Wochenenden und nach der Schule. Sie half ihnen beim Einfädeln und las ihnen vor, wenn ihre Augen müde waren, sie kletterte auf Trittleitern, um Dinge von hohen, staubigen Regalborden zu holen, und hörte ihnen zu, wenn sie von verstorbenen Schulfreundinnen und sechzig Jahre zurückliegenden Klavierkonzerten erzählten. Manchmal machte sie nach der Schule Süßigkeiten für sie, Toffee, Zuckerschaumbällchen, die sie für ihren Kirchenbasar mitnehmen konnten. Dabei benutzte sie eine kalte Marmorplatte und ein Zuckerthermometer, akribisch wie ein Chemiker, folgte dem Rezept Schritt für Schritt und strich die Zutaten im Messbecher mit einem Buttermesser glatt. Die Tanten – selbst wie kleine Mädchen, Rouge auf den Wangen, Locken in den Haaren, fröhlich und aufgekratzt – trippelten hin und her und ein und aus, entzückt über das Treiben in ihrer Küche, und redeten einander mit den Spitznamen ihrer Kindheit an.
    So eine gute kleine Köchin, sangen die Tanten alle miteinander. Wie hübsch du bist. Ein Engel bist du, dass du uns besuchen kommst. Was für ein braves Mädchen. Wie hübsch. Wie süß.

    Harriet, das Baby, war weder hübsch noch süß. Harriet war schlau.
    Seit sie sprechen konnte, sorgte Harriet für eine Art quälender Unruhe im Hause Cleve. Wild auf dem Spielplatz, grob zu Gästen, stritt sie sich mit Edie, lieh sich in der Bibliothek Bücher über Dschingis Khan und bereitete ihrer Mutter Kopfschmerzen. Sie war zwölf Jahre alt und in der siebten Klasse. Obwohl sie eine ausgezeichnete Schülerin war, wurden die Lehrer nicht mit ihr fertig. Manchmal riefen sie ihre Mutter an oder Edie, denn jeder, der die Cleves kannte, war sich darüber im Klaren, dass sie diejenige war, mit der man tunlichst redete; sie war sowohl Feldmarschall als auch Oligarchin, sie hatte die größte Macht in der Familie, und sie würde am ehesten etwas unternehmen. Aber selbst Edie wusste nicht genau, wie sie mit Harriet umgehen sollte. Harriet war nicht wirklich ungehorsam oder widerspenstig, aber sie war hochfahrend, und irgendwie gelang es ihr, beinahe jeden Erwachsenen, mit dem sie in Kontakt kam, zu verärgern.
    Harriet besaß nichts von der verträumten Fragilität ihrer Schwester. Sie war von stämmiger Gestalt wie ein kleiner Dachs, mit runden Wangen, einer spitzen Nase, schwarzen, kurz geschnittenen Haaren
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