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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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und einem schmalen, entschlossenen kleinen Mund. Ihr Ton war forsch, ihre Stimme hoch und dünn und ihre Sprechweise für ein Kind aus Mississippi seltsam knapp, sodass Fremde oft fragten, woher um alles in der Welt sie diesen Yankee-Akzent habe. Der Blick ihrer hellen Augen war durchdringend und dem Edies nicht unähnlich. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Großmutter war ausgeprägt und blieb nicht unbemerkt; aber die lebhafte, wildäugige Schönheit der Großmutter war bei ihrem Enkelkind nur noch wild und ein bisschen beunruhigend. Chester, der Gärtner,
verglich die beiden insgeheim gern mit einem Falken und einem kleinen Hühnerhabicht.
    Für Chester und für Ida Rhew war Harriet ein Quell von Verdruss und Heiterkeit zugleich. Seit sie sprechen konnte, zottelte sie ihnen bei ihrer Arbeit hinterher und fragte sie unaufhörlich aus. Wie viel Geld verdiente Ida? Konnte Chester das Vaterunser? Würde er es für sie aufsagen? Es erheiterte die beiden, wenn sie unter den für gewöhnlich friedfertigen Cleves Zwietracht säte. Mehr als einmal hatte sie für Zwistigkeiten gesorgt, die beinahe ernste Ausmaße angenommen hätten: indem sie Adelaide erzählte, dass weder Edie noch Tat die Kissenbezüge, die sie für sie bestickt hatte, je behalten, sondern sie eingepackt und anderen Leuten geschenkt hätten, oder indem sie Libby davon in Kenntnis setzte, dass ihre Dillgurken keineswegs die kulinarischen Hochgenüsse seien, für die sie sie hielt, sondern ungenießbar, und dass die große Nachfrage bei Nachbarn und Verwandten nur auf ihre seltsame Wirksamkeit als Herbizid zurückzuführen sei. »Kennst du die kahle Stelle im Garten?«, fragte Harriet. »Hinten vor der Veranda? Vor sechs Jahren hat Tatty ein paar von deinen Gurken dort hingekippt, und seitdem ist da nichts mehr gewachsen.« Harriet war entschieden dafür, die Dillgurken in Gläsern zu konservieren und als Unkrautvernichter zu verkaufen. Libby würde Millionärin werden.
    Tante Libby hörte erst nach drei oder vier Tagen auf zu weinen. Bei Adelaide und den Kissenbezügen war es noch schlimmer. Anders als Libby machte es Adelaide Spaß zu grollen; zwei Wochen lang sprach sie nicht mit Edie und Tat, und eiskalt ignorierte sie die versöhnlichen Torten und Pasteten, die man auf ihre Veranda brachte – sie ließ sie stehen, damit die Hunde aus der Nachbarschaft sie fraßen. Libby war entsetzt über diesen Zwist (sie traf daran keine Schuld, denn als einzige der Schwestern war sie loyal genug, Adelaides Kissenbezüge zu behalten, so hässlich sie auch waren), und sie eilte hin und her und bemühte sich, Frieden zu stiften. Fast hätte sie Erfolg gehabt, als es Harriet erneut gelang, Adelaide aufzubringen, indem sie ihr erzählte, dass Edie die Geschenke, die
sie von Adelaide bekam, niemals auch nur auspackte, sondern nur das alte Namensschildchen abmachte und ein neues anbrachte, bevor sie sie weiterschickte: an Wohltätigkeitsorganisationen meistens, auch an solche für Neger. Diese Angelegenheit war so verheerend, dass noch jetzt, Jahre später, jede Erwähnung zu Gehässigkeiten und unterschwelligen Vorwürfen führte, und Adelaide legte jetzt besonderen Wert darauf, ihren Schwestern zum Geburtstag und zu Weihnachten etwas demonstrativ Verschwenderisches zu kaufen – eine Flasche Shalimar zum Beispiel, oder ein Nachthemd von Goldsmith’s in Memphis –, wobei sie dann nicht selten vergaß, das Preisschild zu entfernen. »Ich persönlich bevorzuge selbst gemachte Geschenke«, hörte man sie dann laut in Gegenwart der Damen in ihrem Bridgeclub oder vor Chester im Garten deklamieren, über die Köpfe ihrer gedemütigten Schwestern hinweg, die gerade dabei waren, die unerbetenen Extravaganzen auszupacken. »Sie sind wertvoller. Sie zeigen, dass man sich Gedanken gemacht hat. Aber für manche Leute zählt nur, wie viel Geld man ausgegeben hat. Sie finden, ein Geschenk ist nichts wert, wenn es nicht aus dem Geschäft kommt.«
    »Mir gefallen die Sachen, die du machst, Adelaide«, sagte Harriet dann immer. Und das stimmte auch. Sie hatte zwar keine Verwendung für Schürzen, Kissenbezüge und Küchentücher, aber sie hortete Adelaides grelle Textilien schubladenweise in ihrem Zimmer. Nicht die Wäschestücke gefielen ihr, sondern die Muster darauf: holländische Mädchen, tanzende Teekessel, schlummernde Mexikaner mit Sombrerohüten. Ihr Begehren ging so weit, dass sie sie aus den Schränken anderer Leute stibitzte, und sie war äußerst erbost darüber
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