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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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und wartet er auf uns ...
    Der Garten lag verlassen da. Die Tür des Werkzeugschuppens stand offen: leer. Eine faulige Schicht von grünem Schaum lag unberührt auf dem Goldfischteich. Charlotte blickte hoch, und ein Blitz zuckte wie ein zerfaserter Draht durch die schwarzen Wolken.
    Mrs. Fountain sah ihn zuerst. Ihr Schrei ließ Charlotte wie angewurzelt stehen bleiben. Sie drehte sich um und rannte zurück, schnell, schnell, aber nicht schnell genug – trockener Donner grollte in der Ferne, der Gewitterhimmel tauchte alles in ein seltsames Licht, und der Boden neigte sich ihr entgegen, als sie mit den Absätzen in der schlammigen Erde versank, während immer noch irgendwo der Chor sang, und ein jäher, kräftiger Wind, kühl vom aufziehenden Regen, rauschte über ihr durch die Eichen, dass es klang wie das Schlagen riesiger Flügel, und der Rasen bäumte sich grün und gallig auf und umwogte sie wie das Meer, während sie blindlings und voller Entsetzen dorthin stürzte, wo, wie sie wusste – denn es war alles da, alles, in Mrs. Fountains Schrei –, das Allerschlimmste sie erwartete.
    Wo war Ida gewesen, als sie angekommen war? Wo Edie? Sie
erinnerte sich nur an Mrs. Fountain, die eine Hand mit einem zerknüllten Kleenex fest an den Mund presste und hinter der perlschimmernden Brille wild mit den Augen rollte, an Mrs. Fountain und den kläffenden Pudel und an das volle, unirdische Vibrato – von irgendwoher, von nirgendwoher und von überallher zugleich – in Edies Schreien.
    Er hing mit dem Hals an einem Strick, der über einen niedrigen Ast des schwarzen Tupelobaums geschlungen war, der an der ausgewucherten Ligusterhecke zwischen Charlottes und Mrs. Fountains Haus stand, und er war tot. Die Spitzen seiner schlaffen Tennisschuhe baumelten zwei Handbreit über dem Gras. Die Katze, Weenie, lag bäuchlings ausgestreckt und o-beinig auf einem Ast und schlug mit einer Pfote geschickte Finten nach Robins kupferroten Haaren, die glänzend vom Wind zerzaust waren – das Einzige an ihm, das noch die richtige Farbe hatte.
    Komm heim, sang der Radiochor melodiös:
    Komm heim,
du, der du müde bist, komm heim ...
    Schwarzer Rauch quoll aus dem Küchenfenster. Die Hühnerkroketten auf dem Herd waren angebrannt. Einst ein Lieblingsgericht der Familie, konnte sie nach jenem Tag niemand mehr anrühren.

KAPITEL 1.
Die tote Katze.
    Zwölf Jahre nach Robin Cleves Tod wusste man darüber, wie es gekommen war, dass er in seinem eigenen Garten an einem Baum erhängt gestorben war, noch genauso wenig wie an dem Tag, als es passiert war.
    Die Leute in der Stadt sprachen immer noch über seinen Tod. Meistens sagten sie »der Unfall«, auch wenn die Fakten (wie man sie auf Bridgepartys, beim Frisör, im Anglergeschäft und beim Arzt im Wartezimmer sowie im Speiseraum des Country Club erörterte) eher etwas anderes vermuten ließen. Jedenfalls war es schwer vorstellbar, wie ein Neunjähriger es schaffen sollte, sich durch einen dummen Zufall oder ein Missgeschick aufzuhängen. Alle kannten die Details, und sie gaben Anlass zu mancherlei Spekulation und Debatte. Robin war mit einem Faserkabel von nicht alltäglicher Art erhängt worden, wie es manchmal von Elektrikern benutzt wurde, und niemand hatte eine Ahnung, woher es stammte oder wie es in Robins Hände gekommen sein sollte. Das dicke Material war widerspenstig, und die Kriminalpolizei aus Memphis hatte dem (inzwischen pensionierten) Town Sheriff gesagt, ihrer Meinung nach hätte ein kleiner Junge wie Robin die Knoten nicht selbst knüpfen können. Das Kabel war auf nachlässige, amateurhafte Weise am Baum befestigt, aber ob dies auf Unerfahrenheit oder auf Hast seitens des Mörders schließen ließ, wusste niemand. Und die Male am Leichnam (sagte Robins Kinderarzt, der mit dem staatlichen Leichenbeschauer gesprochen hatte, der wiederum den Obduktionsbericht der County-Behörden gelesen hatte) deuteten daraufhin, dass Robin nicht an einem Genickbruch gestorben, sondern stranguliert worden war. Manche glaubten, er sei dort stranguliert worden, wo er gehangen hatte;
andere vermuteten, er sei auf dem Boden erwürgt und erst nachträglich an den Baum gehängt worden.
    In den Augen der Stadt und der Familie Robins gab es kaum Zweifel daran, dass Robin irgendeinem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Was für einem Verbrechen aber genau oder wer es begangen hatte, das wusste niemand zu sagen. Seit den zwanziger Jahren waren zweimal Frauen aus prominenten Familien von ihren
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