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Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Titel: Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Autoren: Elisabeth Büchle
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Aufgaben zur Seite zu stehen. Dadurch war ihr eine sinnvolle Aufgabe übertragen worden. Norah hatte den Unterrichtsstoff gelernt, indem sie ihn an andere Schüler weitergab, und war für die große Schulklasse kein Störfaktor mehr gewesen. Diesem Lehrer, der einen ungewöhnlichen Weg beschritten hatte, verdankte sie es auch, dass sie die Schule überhaupt hatte beenden dürfen, da bereits einige besser betuchte Eltern darum gebeten hatten, dass dieses immerzu zappelnde Mädchen aus dem Klassenzimmer ihrer Sprösslinge entfernt würde.
    Norah nahm ein Taschentuch und wischte sich damit über ihre von kleinen Schweißperlen bedeckte Stirn. Währenddessen musterte sie Richard intensiver. Sein Anzug saß überaus korrekt, und auch ihm schien es sehr warm zu sein. Warum er sein Jackett wohl nicht wenigstens öffnete? Oder zumindest die Krawatte um seinen Hals abnahm?
    Die junge Frau wandte sich ab, damit er ihr Lächeln nicht sehen konnte. Granny Lora hatte ihr von dem steifen Ernst und der Korrektheit der Deutschen erzählt. Eigentlich hatte die alte Dame kaum noch Kontakt zu ihren Landsleuten gepflegt, seit sie damals einen Iren geheiratet hatte, weshalb Norah ihre fast wie eine Warnung klingenden Beschreibungen über ihre Landsleute für übertrieben gehalten hatte. Aber wenn sie diesen streng blickenden jungen Mann so beobachtete …
    „Meinen Sie nicht, wir sollten allmählich umkehren, Fräulein Casey?“, fragte er jetzt vorsichtig.
    „Aber weshalb denn? Ich sehe dort vorne schon wieder den Bahnhof. Wir können unseren kleinen Rundgang doch in diese Richtung beenden. Und morgen zeigen Sie mir dann noch mehr von der Stadt. Und ich würde gern einmal richtig in den Schwarzwald hineinlaufen. Außerdem möchte ich zu den Seen, von denen meine Großmutter geschwärmt hat – und natürlich nach Vöhrenbach. Dort ist sie geboren und dort begann ja auch die Geschichte der Firma Welte.“
    „Sicher, Fräulein Casey“, antwortete ihr Begleiter knapp.
    Norah gewann den Eindruck, dass er von ihren Plänen nicht sehr begeistert war, doch sie beschloss, sich nicht weiter darum zu kümmern. Ihr Onkel hatte Richard als Begleiter an ihre Seite gestellt, und sie würde die Chance, so viel wie möglich von dieser Gegend zu sehen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Schließlich kam sie ja nicht alle Jahre hierher ins Breisgau.
    Außerdem konnte es Richard nicht schaden, mal etwas auszuspannen. Vermutlich hatte er seit Jahren keinen Tag mehr freigenommen, und sein ernstes Gesicht verriet ihr, dass er selten einmal lachte und die Fähigkeit, sich an kleinen Begebenheiten zu erfreuen, völlig verloren zu haben schien. Er hatte eine schöne, tiefe, fast melodiöse Stimme, und sie nahm sich vor, ihn zumindest einmal zum Lachen zu bringen, bevor sie wieder abreiste.
    Entschlossen nahm sie ihr forsches Tempo wieder auf und marschierte an den schön gepflegten Vorgärten der Häuser und den aufgeräumten Höfen der Firmen entlang. Sie wunderte und freute sich gleichermaßen über die sauberen und ordentlich angelegten Straßen und Gehwege. Beim Anblick dieser akkuraten Ordnung überkam sie das angenehme Gefühl, sich während ihres Aufenthaltes hier in Sicherheit wähnen zu dürfen.
    Die vergangenen Wochen – immer unter der Anspannung, wann es den nächsten Übergriff auf sie geben würde – hatten doch mehr an ihren Nerven gezehrt, als sie gedacht hatte. Hier im Breisgau durfte sie sich endlich einmal wieder frei bewegen, ohne die zuvor immerzu präsente Angst um ihr Leben im Nacken zu spüren.

    Nach ihrem flotten Spaziergang erreichten sie wieder das Anwesen von Norahs Verwandten, und Richard begleitete Norah höflich bis an die breite Treppe.
    Lächelnd streckte sie ihm ihre Hand entgegen, und er drückte sie, trat aber sofort wieder einen Schritt zurück. „Vielen Dank für die Führung und den kleinen Spaziergang, Herr Martin. Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“
    „Gern geschehen, Fräulein Casey“, erwiderte er und verbeugte sich leicht.
    Norah bemühte sich darum, ihre Erheiterung, verbunden mit einer Spur von Spott, nicht zu deutlich zu zeigen, obwohl ihre vorwitzigen Grübchen sie einem aufmerksamen Beobachter dennoch verraten hätten. Vermutlich gab es in ganz Freiburg, im ganzen Breisgau, ja vielleicht sogar im gesamten Großherzogtum Baden keinen vertrauenswürdigeren, ernsteren, korrekteren und damit wohl auch langweiligeren Mann als Richard Martin. Er war nett und höflich
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