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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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Amsterdam Avenue. Für beide Eltern war es das Einzige, was sie an das Zuhause erinnerte, das sie verloren hatten. Niemand hörte sie außer ihrer Vermieterin Verna Washington, einer rüstigen kinderlosen Witwe, die in der anderen Hälfte des Brownstone wohnte und die gern an der Mittelwand lauschte, damit sie ein wenig von der überschäumenden Fröhlichkeit abbekam.
    Die Sicherheit, mit der die Stroms sangen, war etwas Körperliches, etwas Angeborenes, es war die Augenfarbe der Seele. Beide Eltern brachten musikalische Gene mit: er den Mathematikerverstand für Rhythmus und Spannungsbögen, sie die Tonsicherheit der Sängerin, zielstrebig wie eine Brieftaube, und die Farbigkeit, so fein wie die Flügel eines Kolibris. Keiner der beiden Jungen wäre auf die Idee gekommen, dass es etwas Besonderes war, wenn ein Neunjähriger mit der Selbstverständlichkeit, mit der er atmete, vom Blatt singen konnte. Sie brachten eine Melodie so mühelos auf die Welt wie ihre vergessenen Vettern auf die Bäume kletterten. Man musste ja nur den Mund öffnen und die Stimme herauslassen; man machte mit den Tönen einen Ausflug hinunter zum Riverside Park, dahin, wo ihr Vater an einem sonnigen Sonntagnachmittag manchmal mit ihnen spazieren ging: hinauf, hinunter, Kreuz, b, lang, kurz, East Side, West Side, quer durch die Stadt. Jonah und Joseph mussten nur einen Blick aufs Notenblatt werfen, die Notenköpfe der Akkorde gestapelt zu winzigen Totempfählen, und schon hörten sie die gesamte Melodie.
    Manchmal kamen Besucher ins Haus, stets zum gemeinsamen Musizieren. Alle zwei Monate wurde das Quintett zum Kammerchor, verstärkt durch Delias Gesangschüler oder Soprankolleginnen aus dem Kirchenchor. Physiker von Columbia und aus dem City College kamen nach Feierabend mit ihren Instrumenten und machten aus dem Heim der Stroms ein kleines Wien. Einmal an einem turbulenten Abend hörte ein alter Geigenspieler aus New Jersey mit weißer Mähne und mottenzerfressenem Pullover, der sich mit David auf Deutsch unterhielt und Ruth mit unverständlichen Scherzen ängstigte, Jonah singen. Anschließend schimpfte er Delia Strom dermaßen aus, dass sie am Ende in Tränen aufgelöst war. »Das Kind ist begabt. Sie hören gar nicht, wie begabt es ist. Sie sind zu nahe daran. Es ist unverzeihlich, dass Sie nichts für ihn tun.« Der alte Physiker bestand darauf, dass der Junge die beste Ausbildung bekommen müsse, die zu haben sei. Nicht einfach nur einen guten Privatlehrer. Er müsse eintauchen in die Welt der Musik, damit das geradezu beängstigende Talent, das in ihm stecke, zur vollen Größe geweckt werde. Er werde Geld für ihn sammeln, drohte der große Mann, falls es daran scheitere.
    Aber es lag nicht am Geld. David hatte Einwände: Keine Musikschule könne ihm so viel bieten wie seine Mutter. Delia weigerte sich, den Jungen einem Lehrer zu überlassen, der vielleicht seine Eigenart nicht verstand. Der Strom-Familienchor hatte seine eigenen Gründe, warum er seine Engelsstimme nicht hergeben wollte. Aber sie wagten nicht, sich dem Mann zu widersetzen, der das bizarre Geheimnis der Zeit enträtselt hatte, das Geheimnis, das sie gehütet hatte, seit es überhaupt Zeit gab. Einstein war Einstein, auch wenn er Geige spielte wie ein Zigeuner. Er redete so lange, bis die Stroms sich in das Unvermeidliche fügten. Als das neue Jahrzehnt begann und die so lange versprochene Zukunft Wirklichkeit werden sollte, machten Jonahs Eltern sich auf die Suche nach einer Musikschule, die das Talent, vor dem sie sich fürchteten, ans Licht bringen konnte.
    Einstweilen ging der Unterricht zu Hause weiter. Nie konnten die Kinder genug bekommen, und die Schulstunden des Tages gingen nahtlos in den Chorgesang und die musikalischen Spiele des Abends über. Delia kaufte für das Zimmer der Jungen einen Phonographen, so groß wie ein Nähmaschinenschrank. Abend für Abend schliefen die Jungen zum Klang der neuartigen Langspielplatten ein, Platten mit Aufnahmen von Caruso, Gigli und Gobbi. Kleine, blecherne, kreideweiße Stimmen stahlen sich durch diese elektrische Pforte ins Zimmer, schmeichelten Klarer, voller, dynamischer als je zuvor.
    Und einmal, während der Gespensterchor ihn in den Schlaf sang, sagte Jonah seinem Bruder voraus, wie es kommen würde. Er wusste, was ihre Eltern vorhatten. Er prophezeite genau was geschehen würde.
    Sie würden ihn fortschicken, gerade, weil er genau das getan hatte, was die Familie sich am meisten von ihm wünschte. Sie würden ihn
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