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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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aber ich verbarg es vor ihnen. Unsere Eltern sahen sich an, und jeder hatte nur den einen Gedanken, die Verzweiflung des anderen zu vertreiben.
    »Als Sänger bekommt man nicht immer den Part, den man sich wünscht, Jonah«, sagte Pa sanft. Mama blickte nur zu Boden; sie hatte ihren Part schon bekommen, in der ältesten Musikstunde, die es gab.
    Mit Hilfe eines Kollegen an der Musikalischen Fakultät von Columbia zog Pa Erkundigungen ein. Er kehrte mit halb verdrossener, halb verwunderter Miene heim. Er ging und wollte es Mama erzählen. Mama hörte ihm zu, hielt aber nicht in den Vorbereitungen für den Lamm-eintopf inne, den es zum Abendessen geben sollte. Mein Bruder und ich schlichen uns zur Küche, duckten uns rechts und links neben die Tür-pfosten und lauschten wie feindliche Spione. Erwachsene Männer waren für weniger als das auf dem elektrischen Stuhl gelandet.
    »Sie haben einen neuen Leiter«, erklärte Pa.
    Mama schnaubte. »Neuer Leiter, alte Leier.« Sie schüttelte den Kopf
    wie jemand, der alles, was die Welt noch zu sagen hatte, längst kennt. Sie klang anders. Ärmer irgendwie. Älter. Provinzieller.
    »Es ist nicht das was du denkst.«
    »Nicht –«
    »Nein, es liegt nicht an dir. An mir!« Fast hätte er gelacht, aber das Lachen blieb ihm im Halse stecken.
    Pa setzte sich an den Küchentisch. Er stieß einen entsetzlich erschöpf-ten Seufzer aus, einen, den er niemals herausgelassen hätte, wenn er gewusst hätte, dass wir horchten. Es folgte etwas, das beinahe wie ein Kichern klang. »Eine Musikschule ohne Juden! Was für ein Wahnsinn! Wie kann man klassische Musik unterrichten ohne Juden ?«
    »Das geht genauso leicht wie Baseball ohne Farbige.«
    Auch die Stimme meines Vaters hatte sich verändert. Sie klang älter, rauer. »Irrsinn! Genauso gut hätten sie ihn dafür ablehnen können, dass er Noten lesen kann.«
    Mama legte ihr Messer ab. Mit dem Handgelenk strich sie sich das Haar aus der Stirn. Mit der anderen Hand hielt sie den Ellbogen umklammert. »Wir haben unseren Krieg für nichts geführt. Für weniger als nichts. Wir hätten nie anfangen dürfen.«
    »Was bleibt einem solchen Land noch?« Vaters Worte waren wie ein Schrei. Jonah und ich zuckten zusammen, als hätte er uns geschlagen. »Was glauben sie denn, was das für ein Chor wird?«
    An jenem Abend ließ mein Vater, der in all den Jahren nie auf einem Formular »jüdisch« angekreuzt hatte, der sein ganzes Leben dem Beweis gewidmet hatte, dass das Universum keine Religion brauchte, keine außer der Mathematik, uns sämtliche phrygischen Volkslieder singen, die ihm aus der Zeit, die zu vergessen er sich so sehr mühte, noch im Gedächtnis geblieben waren. Er übernahm von meiner Mutter den Platz am Klavier und entlockte ihm die klagende Melancholie, die sich in jenen Akkorden verbarg. Wir sangen in der Geheimsprache, in die Pa manchmal verfiel, wenn er in die Straßen nördlich der unseren ging, dem engen Verwandten des Englischen aus einem fernen Dorf, einem verschrobenen Dialekt, den ich beinahe verstand. Selbst im rasenden Tempo machten diese Harmonien, in denen die verminderten Sexten und Sekunden aufblitzten, aus Liebesliedern an ein hübsches Gesicht ein Schulterzucken angesichts der Blindheit des Schicksals. Mein Vater imitierte eine flinke, näselnde Klarinette, und wir anderen stimmten ein. Selbst Ruth machte mit, mit dem gespenstischen Talent, mit dem sie jeden Laut sofort nachahmte.
    Unsere Eltern nahmen die Suche nach der richtigen Schule wieder auf. Nach dieser ersten Erfahrung wurde Mama härter. Sie würde ihren Erstgeborenen nur an einen Ort in ihrer Nähe lassen, in oder um New York, so nahe an zu Hause wie nur möglich. Und nur Musik und dies neu gefundene Selbstbewusstsein ließen zu, dass er überhaupt fortging. Pa, der Empiriker, ließ kein Kriterium gelten außer der Leistung der Schule. So handelten sie den grässlichen Kompromiss aus: Boylston Academy, ein Internat, das aufs Konservatorium vorbereitete, oben in Boston.
    Den Namen, den die Schule sich damals machte, verdankte sie ihrem Direktor, dem großen ungarischen Bariton János Reményi. Meine Eltern hatten einen Artikel in der New York Times gelesen, in dem Reményi erklärte, die Gesangausbildung in den Vereinigten Staaten sei ein Trauerspiel. Das war natürlich das, was ein Land, das sich als größte Kulturnation der Nachkriegszeit empfand, am wenigsten hören wollte, und zum Lohn unterstützte es den Ankläger nach Kräften. Pa und Mama müssen
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