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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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Tiefe des Saals.
    Reményi blickte in unsere Richtung, aber in dem dunklen Auditorium konnte er uns nicht sehen, und sein Blick ging mitten durch uns hindurch. Er wandte sich wieder an Mama. »Das ist ein Lied für eine reife Stimme. So etwas sollte er nicht singen. Das kann nicht gut werden, und es könnte sogar seine Stimmbänder schädigen.«
    Meine Mutter saß zusammengesunken auf der Klavierbank, erdrückt von der Summe ihrer Fehler. Sie hatte dem großen Mann mit der Kunst ihres Sohnes imponieren wollen, und mit einem Fingerschnippen hatte der große Mann ihr Lämpchen gelöscht. Am liebsten wäre sie in den Klavierkasten gekrochen und hätte sich an den schärfsten, höchsten Saiten in kleine Scheiben geschnitten.
    »In zwanzig Jahren vielleicht, dann werden wir Mahler anständig lernen, das Kind und ich. Wenn wir beide noch am Leben sind.«
    Pa bekundete mit einem Husten seine Erleichterung. Mama auf der Bühne richtete sich wieder auf, entschlossen, doch weiterzuleben. Ruth begann zu plappern, und ich bekam sie nicht mehr still. Mein Bruder stand oben im Rampenlicht, zupfte sich am Ellbogen und hatte anscheinend von dem ganzen Drama gar nichts mitbekommen.
    Draußen auf dem Gang kam Jonah auf mich zugehüpft. »Ich glaube, der mag einfach keine Musik.« Aber in seinen Augen sah ich Mitleid. Er wollte mit diesem Mann arbeiten, wollte ihm das Glück des Gesangs verstehen helfen.
    Wir spazierten über das Schulgelände, besahen uns diesen pseudo-italienischen Palazzo zwischen Back Bay und Fens. Pa unterhielt sich mit einigen von den Schülern, unter anderem mit einem Diplomatensohn, mit dem er Deutsch sprach. Alle standen felsenfest zur Schule und ihren Lehrmethoden. Ein paar ältere Schüler hatten schon Erfolge bei Wettbewerben im Land und in Europa zu verzeichnen.
    Jonah zerrte mich ins Haus, erkundete neugierig alle erdenklichen Ecken, und sah gar nicht, wie misstrauisch man uns beäugte. Unsere Mutter stolperte vor sich hin wie in Schuhen aus Blei, als sei sie unterwegs zu ihrer eigenen Beerdigung. Jeder neue Beweis, dass dies der richtige nächste Schritt im Leben ihres Sohnes war, machte sie in ihrem eigenen zehn Jahre älter.
    Unsere Eltern verhandelten mit den Schulvertretern, und Jonah und ich unterhielten derweil die kleine Ruth, ließen sie die Spatzen mit Brotkrümeln füttern oder mit Kieselsteinen die vorwitzigen Eichhörnchen verjagen. Unsere Eltern kehrten zurück, und Jonah und ich fragten nicht, warum sie so niedergeschlagen aussahen. Zu fünft machten wir uns auf zu dem gemieteten Hudson und der langen Fahrt nach Hause. Aber als wir schon die Auffahrt hinuntergingen, hörten wir hinter uns jemanden rufen.
    »Verzeihung, bitte.« Maestro Reményi stand im Eingang der Akademie. »Haben Sie noch einen Moment Zeit?« Wie schon beim Vorsingen blickte er durch Pa hindurch, als sei er gar nicht da. »Sie sind die Mutter des Jungen?« Er sah Mama lange ins Gesicht, dann Jonah, als suche er den Schlüssel zu einem Geheimnis, das größer war als das Rätsel Mahlers. Mama nickte und wich dem Blick des großen Mannes nicht aus. János Reményi schüttelte langsam den Kopf, als sein Verstand das Beweismaterial verarbeitete. »Brava, madame.«
    Diese zwei Worte waren, was die Musik anging, die größte Anerkennung, die meine Mutter in ihrem ganzen Leben bekam. Fünfzehn Sekunden lang durfte sie den Triumph spüren, auf den sie verzichtet hatte, als sie meinen Vater heiratete und uns Kinder aufzog. Während der ganzen Fahrt nach Hause, auf der Jonah vorn auf dem Sitz vor sich hinsummte, prophezeite sie: »Du wirst unendlich viel von diesem Mann lernen. Ganze Welten.«
    Jonah bekam seinen Platz an der Boylston Academy of Music und ein Stipendium dazu. Doch zu Hause in der Geborgenheit von Hamilton Heights kamen die Bedenken. »Ich könnte noch so viel von dir lernen, Mama«, setzte er seinen Hieb an die empfindlichste Stelle. »Ich kann mich hier besser konzentrieren, ohne die vielen anderen Kinder.«
    Mama antwortete mit ihrer Geschichtslehrerstimme. »Jojo, Schatz. Du bist begabt. Das ist ein Geschenk. Höchstens einer unter tausend Jun-  gen –«
    »Weniger«, sagte Pa und kalkulierte es in Gedanken.
    »Einer unter Millionen kann auch nur von dem träumen, was du bekommst.«
    »Und wen interessiert das?«, sagte Jonah.
    Er wusste, dass es ein Wendepunkt in seinem Leben war. Mama hielt ihn fest, fasste ihn am Kinn, damit er zu ihr aufblickte. Mit einem einzigen Wort hätte sie ihn umbringen können.
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