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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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meiner Hochzeit singt?«
    Sie liebten sie zu sehr, die Musik. Wenn es um Sport ging, zuckten die Jungs nur mit den Schultern, und auch die Komiker und Radiodetektive, die schleimigen Monster aus der zehnten Dimension, die Laiendarstellungen der Gemetzel von Okinawa und Bastogne, die in der Nachbarschaft veranstaltet wurden, verloren jeden Reiz, wenn sie stattdessen bei ihrer Mutter am Stutzflügel sitzen konnten. Selbst am späten Nachmittag, wenn die Rückkehr des Vaters nahte und Delia sich um das Abendessen kümmerte, konnte sie die beiden nur mit Gewalt aus dem Haus drängen, wo sie sich von neuem von anderen Jungen quälen lassen mussten, die das grausame Handwerk des Jungenseins besser beherrschten als sie; Jungen, die die beiden Stroms unerbittlich die eigene Verwirrung spüren ließen.
    Beide Kriegsparteien im Viertel hielten sich an diesen beiden Verirrten schadlos, mit Worten, Fäusten, Steinen – einmal sogar mit dem Hieb eines Baseballschlägers quer über den Rücken. Wenn die Jungs aus dem Viertel sie ausnahmsweise nicht als Torpfosten oder Zielscheiben beim Hufeisenwerfen benutzten, dann machten sie sich lustig über die linkischen Stroms. Sie verhöhnten Joey, weil er so sanft war, drückten Jonahs Nase, die ihnen nicht passte, in den Dreck. Die beiden Strom-Jungen wurden nicht gern Tag für Tag daran erinnert, dass sie anders waren. Oft gingen sie gar nicht zum Spielplatz, sondern versteckten sich in der Gasse einen halben Häuserblock entfernt, vertrieben einander mit dem Summen von Terzen und Quinten die Angst, bis genug Zeit vergangen war und sie wieder nach Hause stürmen konnten.
    Das Abendessen war ein Chaos aus Worten, Scherzen und Streichen, die allabendliche Fortsetzung der Liebesgeschichte von Strom und Daley. Wenn Delia kochte, war ihr Mann aus der Küche verbannt. Für sie war die Art, wie er aus den Töpfen stibitzte, eine Schande für Gott und
    Natur. Sie sperrte ihn aus, bis auch die letzte geniale Kreation für den Auftritt bereit war – Hühnereintopf mit glasierten Möhren, Braten mit Süßkartoffeln, die kleinen Wunder, die sie in den Minuten vollbrachte, die sie von ihren anderen Vollzeitbeschäftigungen stahl. David erzählte im Gegenzug von den neuesten bizarren Entwicklungen, die es bei seiner surrealen Arbeit gab. Professor für Phantommechanik, spottete Delia immer. Pa, begeisterungsfähiger als alle seine Kinder, erzählte die unglaublichsten Sachen, von seinem Bekannten Kurt Gödel zum Beispiel, der entdeckt hatte, dass sich in Einsteins Feldgleichungen geschlossene zeitartige Kurven verbergen. Oder von der Vermutung Hoy-les und Bondis und Golds, dass neue Galaxien in Lücken zwischen den anderen entstehen, wie Unkraut, das aus den Ritzen des brüchigen Universums sprießt. Für die Jungs, die ihm zuhörten, schien die ganze Welt aus deutschsprachigen Flüchtlingen zu bestehen, die, an allen Enden der Welt vor den Nazis in Sicherheit gebracht, drauf und dran waren, Raum und Zeit aus den Angeln zu heben.
    Delia schüttelte den Kopf über den Unsinn, der in ihrem Haus als Tischgespräch galt. Die kleine Ruth ahmte ihr Kichern nach. Aber die Jungs, beide noch keine zehn, überboten sich gegenseitig mit Fragen. War es dem Universum egal, in welche Richtung die Zeit floss? Plätscherten die Stunden wie ein Wasserfall? Gab es nur die eine Art von Zeit? Wechselte die Zeit manchmal das Tempo? Wenn die Zeit gekrümmt war, würde die Zukunft dann irgendwann wieder bei der Vergangenheit anlangen? Ihr Vater war besser als die verrückten Wissenschaftscomics, besser als Astounding Stories und Forbidden Tales. Er kam von einem Ort, der viel weiter fort war, und die Bilder waren noch viel unglaublicher.
    Nach dem Essen wurde gesungen. Rossini beim Geschirrspülen, W. C. Handy beim Abtrocknen. Am Abend krochen sie durch zeitartige Löcher, fünf Kurven, die sich im wirbelnden Raum ineinander woben, jede davon gekrümmt, sodass sie am Ende wieder bei ihrem Anfang ankam. Bach-Choräle gehörten immer dazu, und Jonah gab den Ton an, der Junge mit dem magischen Ohr. Oder sie versammelten sich um das Stutzflügel und versuchten sich an einem Madrigal, griffen ab und zu in die Tasten, um ein Intervall zu bestimmen. Einmal sangen sie mit verteilten Rollen an einem einzigen Abend eine ganze Gilbert-and-Sulli-van-Operette. Nie wieder sollte es so lange Abende geben.
    An solchen Abenden hätte man denken können, die Eltern hätten die Kinder zu ihrer eigenen Unterhaltung in die Welt gesetzt.
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