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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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für seine musikalische Antwort. Die Kinder sahen gespannt zu, wenn Delias Melodie sich entfaltete, warteten, ob Pa gegen die Uhr eine passende zweite hineinflechten konnte, bevor ihre Mutter den Schlussstrich erreichte. Wenn nicht, machten die Kinder sich in falschem Deutsch über ihn lustig, und seine Frau durfte sich eine Strafe ausdenken.
    Er versagte selten. Ehe sich der Kreis von Dvoraks gestohlenem Volks-lied geschlossen hatte, hatte er schon eine Möglichkeit gefunden, wie er Schuberts Forelle bachaufwärts dagegen anschwimmen ließ. Damit war nun wieder Delia am Zug. Eine Strophe Zeit blieb ihr, ihrerseits ein Zitat zu finden, das in den neuen Rahmen passte. Eine kurze Überleitung, schon tummelte sich die Forelle im Swanee River.
    Die Regeln wurden großzügig gehandhabt. Themen konnten verlangsamt werden bis fast zum Stillstand, und erst wenn die Zeit reif war, wechselte die Tonart. Oder Melodien rasten so schnell vorbei, dass sie
    zu einzelnen Tönen verschmolzen. Die Melodielinien fächerten sich auf zu langen Choralvorspielen, voll gestopft mit wechselnden Vorzeichen, oder die Phrase endete auf einer anderen Kadenz – alles war erlaubt, solange noch eine Spur der Melodie blieb. Die Worte konnten die originalen sein, aber auch die Fa-la-las der Madrigale oder Blödsinn aus Reklamespots, solange irgendwann im Lauf eines Abends jeder Sänger ihre traditionelle Nonsensfrage unterbrachte: »Doch wo, aber wo, bauen sie ihr Nest?«
    Das Spiel stiftete die wildesten Mischehen, verkuppelte Liebespaare, die selbst der Halbblut-Himmel misstrauisch beäugte. Ihre Altrhapsodie zankte sich mit seinem geknurrten Dixieland. Cherubini schmetterte mitten hinein in einen Cole Porter. Eine unheilige Menage á trois aus Debussy, Tallis und Mendelssohn. Nach ein paar Runden waren die Knoten aus Akkorden so dick, dass sie von ihrem eigenen Gewicht zu Boden gingen. Wechselgesang endete in übermütigem Grölen, und wer dabei vom Karussell geschleudert wurde, warf dem anderen vor, er hätte ihn mit unfairen Harmonien hinuntergeschubst.
    Bei einem solchen Spiel, beim Melodienwettstreit an einem kalten Dezemberabend des Jahres 1950, bekamen David und Delia Strom zum ersten Mal eine Ahnung davon, was sie in die Welt gesetzt hatten. Der Sopran begann mit einer langsamen, üppigen Melodie, Haydns Deutschem Tanz Nr. 1 in D-Dur. Darüber legte der Bass ein wackliges «La donna e mobile«. Das Ganze war so albern und so absurd, dass ein erwi-dertes Grinsen genügte, und die Ungeheuerlichkeit ging in eine zweite Runde. Doch bei dieser Reprise löste sich etwas aus dem Durcheinander, eine Melodie, die von keinem der beiden Eltern stammte. Der erste Ton kam so klar und rein, dass die zwei Erwachsenen einen Moment lang brauchten, bis sie begriffen, dass das keine aus den beiden Echos entstandene Geisterstimme war. Sie sahen erschrocken zuerst einander, dann ihren älteren Sohn Jonah an, der ohne eine einzige falsche Note Josquins Absalon, fili mi sang.
    Die Stroms hatten das Stück einige Monate zuvor vom Blatt gesungen und dann als zu schwer für die Kinder beiseite gelegt. Dass der Junge es komplett behalten hatte, war für sich schon ein Wunder. Und als es Jonah gelang, die Melodie in die beiden einzupassen, die schon im Umlauf waren, da spürte David Strom wieder die Erregung, die er zum ersten Mal empfunden hatte, als sich die Stimme seines Jungen über den doppelten Eingangschor von Bachs Matthäuspassion erhoben hatte. Beide Eltern hielten abrupt inne und starrten den Jungen an. Das Kind starrte verlegen zurück.
    »Was habt ihr? Habe ich was falsch gemacht?« Das Kind war noch nicht einmal zehn. Das war der Tag, an dem David und Delia Strom begriffen, dass ihr Erstgeborener ihnen bald genommen würde.
    Jonah brachte den Trick seinem kleinen Bruder bei. Joseph steuerte vom folgenden Monat an seine eigenen verrückten Zitate bei. Von da an improvisierte die Familie ihre hybriden Schöpfungen im Quartett. Die kleine Ruth weinte; sie wollte mitspielen. »Ach, Kleine!«, sagte ihre Mutter. »Nicht traurig sein. Du wirst schneller in der Luft sein als alle anderen. Nicht mehr lange, und du kannst fliegen.« Sie gab Ruth Kleinigkeiten zum Üben – die Melodie aus der Texaco-Reklame oder »You Are My Sunshine« –, während die anderen dafür sorgten, dass Joplin-Rags und Fetzen aus Puccini-Arien sie in friedlicher Eintracht umtanzten.
    Sie sangen fast jeden Abend miteinander, übertönten das ferne Dröh-nen des Verkehrs auf der
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