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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
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gesagt hatte, sie wolle ihn nicht mehr. Wegen seiner Hautfarbe.
    Es war sein London. Er sprach, aß und trank genau wie die anderen jungen Männer. Anders war es nur, wenn er sich in seinem Zuhause im Norden Londons aufhielt. Dort hatte er Masis statt Tanten und Kakas statt Onkel, und seine Mutter lag ihm ständig damit in den Ohren, sich ein nettes Mädchen zu suchen. Er liebte seine Familie, aber er wusste, dass sein Interesse an weißen Mädchen ihm eines Tages Probleme bereiten würde. Der Junge überholte einen Inder, der eine Flöte bei sich trug, wie er sie seit seiner Ausreise aus Indien nicht gesehen hatte. Er blieb stehen, um auf das Wasser zu schauen.
    Er hatte immer gedacht, seine Eltern würden die Schwierigkeiten machen. Würden ihn nicht verstehen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass es umgekehrt sein könnte. Der Mann mit der Flöte blieb ein paar Meter von ihm entfernt stehen und begann zu spielen. Er sah nicht aus wie ein Straßenmusikant. Die
Melodie zog den Jungen in ihren Bann. Sie war eine Mischung aus Ost und West.
    Sie erinnerte ihn an das Lied, das an dem Abend gespielt wurde, als er sie das erste Mal im Pub gesehen hatte. Sie saß auf der anderen Seite des Lokals und unterhielt sich mit einem Mädchen, das er von der Universität kannte. Die verführerische Stimme von Norah Jones erfüllte den Raum. Auch ein Kind, das zwei Welten in sich trug. Er fragte sich, wie sie damit umgegangen war.
    Nie hätte er gedacht, dass aus ihm ein Londoner Klischee werden würde. Weißer Junge, schwarzes Mädchen, Hindu-Mädchen, Muslim-Junge, anglikanische Kirche gegen Swami Narayan … Romeo und Sch…ß-Julia. Das Einzige, was ihm jetzt auf dieser Brücke noch sinnvoll erschien, war das Wasser unter ihm, ebenso düster wie ihre Augen, als sie sich das letzte Mal geliebt hatten. Er dachte an ihre Tränen, als sie ihm Lebewohl sagte, fassungslos, dass sie dieses Wort aussprechen konnte. Das Einzige, das er nie hätte zu ihr sagen können. Er beugte sich über das Geländer und überlegte, wie es wohl wäre zu springen.
    Der Klang der Flöte wurde lauter, hüllte ihn ein. Sie verspottete ihn wegen seiner Traurigkeit. Zwang ihn, an die Folgen seiner Entscheidungen zu denken. Machte ihn zornig. Suchte ihn mit Geräuschen aus seiner Kindheit heim, die er absichtlich vergessen hatte. Lachte über seine Selbstbezogenheit, beruhigte ihn, half ihm, mit langgezogenen, bedächtigen Tönen zu verstehen, dass Leid ein Teil des Lebens war.
    Er riss sich los, von dem Geländer und vom Wasser, und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt, die sein Zuhause war.
    Der Mann mit der Flöte hörte auf zu spielen, atmete tief ein und ging in die andere Richtung davon. Sein gelber Schal flatterte im Wind.
    *
    Kalu beschloss, noch einmal nach South Bank zurückzugehen. Am Abend zuvor hatte er dort gespielt. Es war sein größtes Konzert bisher gewesen. Doch ohne den Guruji im Publikum war es ein hohler Triumph.
    Heute wollte er statt im Konzertsaal am Fluss spielen. Ein kalter Wind blies ihm entgegen. Kalu fröstelte und zog den Mantel enger. Auch wenn die graue Themse so ganz anders war als die Narmada, brachte sie ihn doch im Geist nach Indien. Die alten, von der bleichen Sonne angestrahlten Backsteingebäude am anderen Ufer erinnerten ihn an ihre fernen Verwandten in Bombay. Die schönen Gebäude an der Themse blickten über Gärten auf den Fluss. Ihre Ziegel waren morsch von der Hitze und vom Regen. In jedem Winkel wucherten Pflanzen, und ihre Farbe war ausgeblichen. Sie wirkten fast indisch. Ebenso wie der indische Junge, den er gestern auf dem Weg zur Probe auf der Brücke gesehen hatte, der fast englisch gewirkt hatte. Er fragte sich, was diesen Jungen so sehr verletzt hatte. Doch was auch immer die Ursache gewesen sein mochte, sein Spiel hatte ihm geholfen, davon war Kalu überzeugt.
    Kalu band sich den gelben Schal fester um den Hals und beobachtete einen Mann in einem zerlumpten Mantel und in löchrigen Hosen, der zurückgelassene Kaffeebecher einsammelte und zu einer Bank im Windschatten einer großen Glastür trug. Die Bank war schon fast ganz von einem Mosaik aus Plastikbechern bedeckt. Einer Mischung aus halbvollen und halbleeren Bechern. Dann setzte er sich und begann zu trinken: erst die Becher mit Latte und Cappuccino, dann die mit schwarzem Kaffee.
    Kalu suchte sich einen Platz auf der anderen Seite der Glastür und zog eine Flöte hervor. Am Abend zuvor hatte er für die Reichen, die Kenner und die
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