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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
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eine Erklärung für all die Geschehnisse zu finden, seit er das erste Mal von dem shinjū gehört hatte. Er wollte ungestört darüber nachdenken, welche Bedeutung die überraschende und beängstigende Wendung besaß, die sein Schicksal genommen hatte. Er wollte sich über die Gefühle klar werden, die sich nun, nachdem der anfängliche Schock und die Benommenheit allmählich von ihm wichen, in ihm ausbreiteten.
    Schließlich endete die lange Mahlzeit. Sano stand auf und verbeugte sich vor seinen Eltern. »Entschuldigt bitte, aber ich muß jetzt zu Wada -san und ihm sein neues Pferd geben«, sagte er. Mit Päckchen voller mochi und Mandarinen beladen, die er unter den Nachbarn verteilen wollte, entkam Sano schließlich hinaus auf die stillen Straßen.
    Er gab das Pferd bei Wada -san ab, der das Tier mit ehrfürchtiger Dankbarkeit annahm. Dann brachte er Sano dazu, ins Haus zu kommen und seine Beförderung mit einem guten Schluck zu begießen.
    Anschließend suchte Sano die Nachbarn auf, gab aber nur die Päckchen ab und wünschte den Leuten ein gutes neues Jahr. Neuigkeiten verbreiteten sich rasch; die Nachbarn würden noch schnell genug von Sanos zweifelhaftem Glück erfahren.
    Dann schlenderte er durch die Straßen; sein allerletztes Neujahrsgeschenk trug er noch bei sich. Seine Gedanken waren in Aufruhr. Er ließ sich die Ereignisse durch den Kopf gehen, die ihn in seine jetzige Lage gebracht hatten.
    Hätte alles auch anders verlaufen können, fragte er sich. Hättest du die große Tragödie verhindern können, ohne daß dabei kleinere entstanden wären? Kann dein letztendlicher Sieg deine vielen Niederlagen aufwiegen? Und vor allem: Weshalb hast du so große Angst davor, dein neues Amt anzutreten?
    Sano war nicht erstaunt, als er sich schließlich vor dem Gefängnis von Edo wiederfand. Denn er suchte doch nicht die Einsamkeit, sondern jene Art von Gesellschaft, die er in seiner derzeitigen Lage am nötigsten brauchte.
    Diesmal blickte Doktor Itō erstaunt drein, als er Sano an seiner Zellentür willkommen hieß. Nachdem er die Neujahrsgrüße und das Geschenk seines Besuchers entgegengenommen hatte, sagte Itō: »Ich muß gestehen, daß ich mich gefragt habe, ob wir uns jemals wiedersehen, mein Freund. Es gab seltsame Gerüchte um Euch. Was führt Euch hierher? Offensichtlich seid Ihr jetzt in Sicherheit und …« Er hielt inne und hob die Brauen, als er das Wappen der Tokugawas auf Sanos Kleidung sah. »Und wenn schon nicht unversehrt an Leib und Seele, so doch zumindest dem Anschein nach in bester Verfassung.«
    Sano erwiderte nichts. Das Bedürfnis, sich seine Sorgen und Bedenken von der Seele zu reden, war schier überwältigend. Doch nun, als Doktor Itō vor ihm stand und darauf wartete, daß Sano ihm den wahren Grund für seinen Besuch nannte, wußte er nicht, wie er beginnen sollte. Wie konnte er die unbestimmbaren Ängste, die Reue und die Zweifel, die ihn quälten, in Worte kleiden?
    Schließlich brach Doktor Itō das Schweigen. »Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid, Sano -san« , sagte er. »Ihr seid gerade zur rechten Zeit erschienen, um an meinem besonderen Neujahrsritual teilzunehmen. Kommt mit.«
    Er führte Sano an einer Reihe bewachter Türen und Durchgänge vorbei bis auf einen Hof, auf dem die Kasernen der Wachtmänner gleich unterhalb der äußeren Gefängnismauer standen. In einer Ecke führte eine Treppe zur Mauerkrone und dem westlichen Wachtturm hinauf.
    Als sie die Stufen hinaufstiegen, sagte Doktor Itō: »Heute ist der Tag, an dem ich über diese Mauer hinwegschaue und mich am Anblick Edos erfreue.«
    Die Sorge um seinen Freund ließ Sano für den Augenblick die eigenen Probleme vergessen. »Wollt Ihr damit sagen, daß man Euch nur einmal im Jahr über die Gefängnismauer hinwegschauen läßt?« fragte er fassungslos. Verglichen mit einer lebenslangen Einkerkerung, erschienen Sano die eigenen Sorgen plötzlich unbedeutend, und die Belohnung durch den Shōgun kam ihm wie ein vollkommener Segen vor.
    »O nein«, erwiderte Doktor Itō mit einem trockenen Lachen. »Die Wächter würden mich jederzeit herauflassen, wenn ich sie darum bitte. Ich behandle ihre Beschwerden, und als Gegenleistung gewähren sie mir Privilegien, die unsere erlauchte Regierung mir nie zugestehen würde. Nein, ich habe beschlossen, mir meine Freuden einzuteilen. Würde ich das nicht tun, würden sie an Reiz verlieren, und ich würde mich nicht mehr so sehr darauf freuen. Außerdem bewahre ich mich auf diese Weise
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