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Der Ketzerlehrling

Der Ketzerlehrling

Titel: Der Ketzerlehrling
Autoren: Ellis Peters
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in den Schultern – doppelt so breit, dickfleischig und beleibt bis an die Grenze des Fetten und dennoch zugleich kraftvoll und muskulös. Sein Gesicht wirkte auf den ersten Blick gerundet und glatt von gutem Leben, mit vollen Lippen, vollen Wangen und genußsüchtig. Auf den zweiten Blick verrieten die Lippen eine beträchtliche und intolerante Kraft, das fleischige Kinn umhüllte einen entschlossenen Kiefer, und die Augen bezeugten trotz ihrer leicht gedunsenen Umgebung einen scharfen und kritischen Verstand. Sein Kopf war unbedeckt, und er trug die Tonsur; sonst hätte Cadfael, der ihm noch nie begegnet war, ihn für einen Baron oder Grafen vom Hofe des Königs gehalten, denn seine Kleidung war, von ihrem düsteren Dunkelkarmin und Schwarz abgesehen, herrenmäßig geschnitten und verziert, eine lange, üppige Robe, bis auf den Boden reichend, aber zum Reiten vorn und hinten fast bis zur Taille geschlitzt, mit goldgesäumtem, dem sommerlichen Wetter entsprechend offenem Kragen, unter dem ein feines Leinenhemd zu sehen war und eine goldene Kette mit einem Kreuz unter einer dicken, muskulösen Kehle. Zweifellos gab es irgendwo einen Leibdiener oder Bereiter, der es ihm ersparte, Mantel oder Gepäck selbst tragen zu müssen – nicht einmal die Handschuhe, die er vermutlich beim Absteigen abgestreift hatte. Der Klang seiner Stimme, aus einiger Entfernung vernehmbar, als die beiden Herren das Haus betraten, war leise und gemessen und vermittelte dennoch den Eindruck von Verärgerung.
    Wenige Augenblicke später sah Cadfael den vermutlichen Grund dafür. Ein Bursche kam vom Torhaus her über den Hof und führte zwei Pferde zu den Stallungen, einen stämmigen Braunen, vermutlich sein eigenes Reittier, und einen großen, eleganten, prächtig aufgezäumten Rappen mit weißen Fesseln.
    Keine Frage, wem er gehörte. Das prunkvolle Zaumzeug, die scharlachrote Satteldecke und die reichverzierten Zügel ließen keinerlei Zweifel daran. Zwei weitere Männer folgten mit ihren weniger dekorativen Reittieren am Zügel und einem schwerbeladenen Packpferd. Dies war ein Kleriker, der nicht ohne den Komfort reiste, den er gewohnt war. Doch wenn etwas geeignet war, den Ton gemessenen Ärgers in seiner Stimme anklingen zu lassen, so war es der Umstand, daß das schwarze Pferd, das einzige in der Gruppe, das dem Rang seines Reiters Gerechtigkeit widerfahren ließ, wenn nicht sogar das einzige, das imstande war, sein Gewicht zu tragen, auf dem linken Vorderbein lahmte. Was immer sein Auftrag und das Ziel seiner Reise sein mochten – der Gast des Abtes würde gezwungen sein, seinen Aufenthalt um ein paar Tage zu verlängern, bis die Verletzung seines Reittieres ausgeheilt war.
    Cadfael beendete seine Arbeit, trug den Korb mit den verwelkten Blüten in den Garten und ließ den Trubel und die Geschäftigkeit des großen Hofes hinter sich. Das schöne, warme Wetter hatte die Rosen früh erblühen lassen.
    Frühlingsregen hatte für eine gute Heuernte gesorgt und die Trockenheit im Juni für ideale Verhältnisse zum Einfahren. Das Scheren der Schafe war fast abgeschlossen, und die Wollhändler errechneten hoffnungsvoll den Wert der Schuren.
    Die bescheidenen Pilger, die zu Fuß zur heiligen Winifred kamen, würden trockenes Reisewetter und warme Nächte haben, selbst im Freien. Das Werk der Heiligen? Cadfael konnte sich gut vorstellen, daß, wenn das Mädchen aus Wales lächelte, die Sonne auf das Grenzland schien.
    Das früher angesäte der beiden Erbsenfelder, die vom Rande des Gartens zum Meole-Bach hin abfielen, war bereits reif gewesen und abgeerntet worden; zehn Tage Sonne hatten die Schoten schnell wachsen lassen. Bruder Winfrid, ein kräftiger, blauäugiger junger Riese, war eifrig damit beschäftigt, das Wurzelwerk als Dünger einzugraben, während die Stengel, mit Sicheln abgehauen, am Rande des Feldes trockneten, um als Futter und Bettstroh verwendet zu werden. Die Hände, die den Spaten schwangen, waren riesig und braun und sahen aus, als müßten sie unbeholfen sein; doch im Umgang mit Cadfaels kostbaren Glasphiolen und spröden getrockneten Kräutern waren sie ebenso geschickt und behutsam wie kraftvoll und ausdauernd beim Hantieren mit Hacke und Spaten.
    In der Luft des ummauerten Kräutergartens hing eine warme und würzige Süße. Unkraut gedeiht bei gutem Wachstumswetter nicht weniger gut als die Kräuter, zwischen denen es sich breitmacht, und um diese Jahreszeit gab es immer zu tun. Cadfael schürzte seine Kutte und machte
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