Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
Vom Netzwerk:
günstigen Herberge mit Blick über den Fluss. Dort aßen wir auch zu Abend, Dai bestellte wieder für uns. »Ihr mögt doch Waschbär?«, fragte sie und wartete die Antwort lieber gar nicht ab, obwohl ich, was das Essen anging, mittlerweile alle Hemmungen verloren hatte, und auch Großvater beschwerte sich nicht. »Waschbär«, wiederholte er nur, als sei es ein chinesisches Wort, das er gerade gelernt hatte.
    Ob er mir nicht jetzt die Geschichte mit Lian zu Ende erzählen wolle, fragte ich ihn, während Dai damit beschäftigt war, mit ihrem Handy eine erstaunliche Anzahl von Kurzmitteilungen zu verschicken. Großvater sah mich überrascht an. Das habe er doch schon im Auto getan. »Nein«, sagte ich, »du bist irgendwann eingeschlafen.« »Wirklich?«, fragte Großvater, dann habe er das anscheinend nur geträumt.
    Dai sah von ihrem Handy auf, ohne das Tippen zu unterbrechen. »Du hast ihm die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt?«, fragte sie Großvater entsetzt. Er schüttelte den Kopf, es sei leider immer etwas dazwischengekommen. »Über zwanzigjahre lang?« »ja«, sagte Großvater, »leider.« Aber nun werde er das ja endlich nachholen, wo er denn stehengeblieben sei, fragte er mich. »An eurem letzten Tag«, sagte ich, und Großvater nickte ein paar Mal. »Der letzte Tag«, sagte er dann. »Wie seltsam, dass all das nicht gestern geschehen ist.«
    Er habe natürlich nicht geschlafen in der Nacht zuvor, und den ganzen Vormittag über war er rastlos durch die Stadt gestreift, hatte versucht, sich mit irgendetwas abzulenken, aber das gelang nicht, die Stunden bis zum frühen Nachmittag verstrichen unerträglich langsam, und gleichzeitig längst nicht langsam genug, weil es das letzte Mal sein würde, dass er auf Lian wartete.
    Als er gegen vierzehn Uhr zum »Tamtam« zurückkehrte, fand er dort alles in heller Aufregung. Erst dachte er, es handele sich nur um die Hektik der nahenden Abreise, aber dann wurde ihm mitgeteilt, warum alle so wild durcheinanderliefen : Lian war offenbar verschwunden, ihr Zimmer ausgeräumt, und auch von Hu fehlte jede Spur. Der Direktor tobte in seinem Wagen, man hörte ihn schluchzen, man hörte ihn schreien, man hörte, wie Geschirr zu Bruch ging, und Großvater hätte ihn am liebsten gefragt, ob er dabei vielleicht Hilfe benötige.
    Unsere Waschbären wurde gebracht, Dai legte ihr Handy zur Seite, aber keiner von uns begann zu essen. Großvater nahm sich nur seine Stäbchen und begann, sie aneinanderzureiben , während er weitererzählte.
    »Überall habe ich nach Lian gesucht«, sagte er, »in jedem einzelnen Zimmer des Gebäudes«, er habe in sämtlichen Krankenhäusern gefragt, glücklicherweise erfolglos, dann sei er zu allen Kartoffelhändlern gefahren, zu allen Eisdielen und Bäckern und Metzgern, aber nirgendwo hatte man sie gesehen. Er fuhr sogar noch einmal zu der Bucht hinaus, in der sie damals gepicknickt hatten, und war, wie er sagte, »schwer beleidigt«, sie auch dort nicht anzutreffen. Das wäre schließlich ein passender Ort für einen Abschied gewesen, und nun würde es wohl gar keinen Abschied geben, und vielleicht war es auch am besten so, schließlich hatten sie die ganzen zwei Wochen über nichts anderes getan, als sich zu verabschieden, sie hatten sich überhaupt nur wegen des Abschieds kennengelernt, und ab morgen würde eine halbe Welt sie trennen und sehr bald schon noch viel mehr als das.
    Es war keine gute Vorstellung an diesem Abend, alle auf der Bühne wirkten unkonzentriert, machten unnötige Fehler, und je näher das Finale rückte, desto weniger konnten sie ihre Unruhe verbergen, die sich schnell auf das Publikum übertrug, ein Murmeln breitete sich im Zuschauerraum aus, das bald zu einem Säuseln anschwoll, einem Flüstern, einem kaum mehr gedämpften Sprechen, und als der Direktor schließlich die Bühne betrat, um anzukündigen, dass die Weltsensation Lian heute leider krank sei, konnte Großvater ihn kaum verstehen, so lautstark wurde um ihn herum geredet und gepfiffen und gehustet und geschimpft.
    Die Akrobaten betraten noch einmal lustlos die Bühne, um zumindest einen halbwegs spektakulären Schlusspunkt zu setzen, keiner nahm von ihnen Notiz, und Großvater stand auf und ging Richtung Ausgang, er wollte jetzt nur noch ins Bett, doch als er die Tür gerade erreicht hatte, erstarb der Lärm auf einmal so schlagartig, dass Großvater glaubte, er habe von einer Sekunde auf die andere sein Gehör verloren. Er drehte sich um und sah, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher