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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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unten im Hof. »Vielleicht morgen«, übersetzte Hu, und Lian strich Großvater sanft über die Wange, als ob er es wäre, der getröstet werden müsste.
    Doch auch am nächsten Tag betrat Lian nicht das Seil. Sie ließ sich zwar nun gleich nach ihrer Ankunft ans Fenster des dritten Stockes ziehen, doch auch diesmal verharrte sie dort starr den gesamten Nachmittag, obwohl Großvater noch lauter rief, obwohl er ermutigende Schilder hochhielt, obwohl er flehte und drohte und anfeuerte und schimpfte und mit allen möglichen Kostbarkeiten lockte. Lian bewegte nicht einmal einen Finger, und im Hof ließ sie ihm dann wieder ein »Vielleicht morgen« ausrichten, und Großvater sagte: »Ja, vielleicht morgen« und knickte seine ermutigenden Schilder zusammen.
    »An diesem Tag verpasste ich das einzige Mal eine von Lians Vorstellungen«, sagte Großvater. Und obwohl er gewusst habe, dass er es anschließend bitter bereuen würde, sei es ihm einfach nicht möglich gewesen. Er lag auf dem Bett und starrte an die Decke, der Schlussapplaus drang gedämpft in sein Zimmer, und wenig später klopfte es, und obwohl Großvater nicht »Herein« sagte, betrat Hu schüchtern das Zimmer.
    »Wo waren Sie?«, fragte er, Lian sei sehr enttäuscht gewesen, ihn nicht zu sehen, und Großvater sagte, er selbst sei halt auch sehr enttäuscht. »Wovon denn?«, fragte Hu und setzte sich auf die Bettkante. Großvater verschränkte die Arme. »Davon, dass Lian nicht einmal versucht, sich ihren letzten Wunsch noch zu erfüllen.« Hu saß sehr aufrecht, seine Handflächen ruhten exakt parallel zueinander auf den Oberschenkeln, er räusperte sich kurz, »Ich bin mir nicht sicher, ob das Lians letzter Wunsch ist oder der Ihre«, dann stand er auf, verbeugte sich und verließ das Zimmer, und Großvater blieb allein zurück, und in diesem Moment habe er sich so klein gefühlt »wie der i-Punkt eines auf ein Reiskorn geschriebenen Namens.«
    Er nahm sich vor, das Seiltanzen am nächsten Tag nicht mehr zu erwähnen, und umso überraschter war er, als er beim Betreten des Hofes Lian bereits im Fensterrahmen stehen sah. Er beeilte sich, seine Position am anderen Ende des Seils einzunehmen, er rief nichts, er hielt nichts hoch, er lockte mit nichts, und nach zwei Stunden hob Lian , den Blick unentwegt auf Großvater gerichtet, vorsichtig ihren linken Fuß vom Sims und ließ ihn aufs Seil hinab, dort blieb er, schob sich Zentimeter für Zentimeter nach vorne, stellte sich mal auf die Ballen, mal auf die Hacke, die riesigen Zehen schlangen sich um den dünnen Draht, und Großvater versuchte zu lächeln, aber entweder misslang es ihm, oder Lian bemerkte es nicht einmal, denn sie lächelte nicht zurück. Irgendwann hatte sich ihr linker Fuß so weit aufs Seil geschoben, dass sie das Bein ganz durchstrecken musste, im Ausfallschritt stand Lian nun da, die Arme bereits zu den Seiten ausgestreckt, den Kopf schon im Freien, doch der rechte Fuß löste sich einfach nicht vom Sims, und die Dämmerung kam, und die Maskenbildner mahnten, und Zentimeter für Zentimeter zog Lian ihren linken Fuß zurück und verschwand aus dem Fensterrahmen, und im Hof sagte sie nicht mehr: »Morgen vielleicht«, denn am nächsten Tag war schon die letzte Vorstellung, die Heimreise stand bevor, der Abschied stand bevor, »und es gab nichts daran zu zweifeln«, sagte Großvater, »dass es ein Abschied für immer sein würde«. Das sagte er schon sehr leise, und »Am nächsten Tag, unserem letzten Tag, suchte ich« sagte er noch leiser, und dann sagte er gar nichts mehr, er war eingeschlafen, und so fest ich ihn auch rüttelte, er wachte nicht wieder auf, sein Schnarchen tönte voll und gleichmäßig, draußen brach der Morgen an, und ich wollte weiter geradeaus fahren, einfach immer geradeaus, durch die Wüste Gobi, durch den Himalaja, die Seidenstraße entlang, ich wollte kein Ziel haben, hin und wieder würden Dai oder Großvater aufwachen, »Sind wir schon da?«, würden sie fragen, und ich würde sagen: »Noch nicht ganz.«
    Die Landschaft füllte sich wieder, die Häuser wurden größer, der Verkehr nahm zu, und dann sah ich im Rückspiegel, wie Dai erwachte. Sie blinzelte ein paar Mal, sah kurz aus dem Fenster. »Ich kann dich jetzt wieder ablösen«, sagte sie.
    Am frühen Nachmittag erreichten wir die Stadtmauer von Fenghuang . Sie bildet noch immer einen abgeschlossenen Kreis rund um die Stadt, wenn sie auch an einigen Stellen schon so zerfallen ist, dass sie einem kaum bis zum Knie
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