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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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Er sah jünger aus als in den letzten Monaten, etwas blass natürlich, zwischen Nase und Mundwinkel hatte sich ein tiefes Dreieck gebildet, aber sonst wirkte er erholt, fast genießend, als rage sein Kopf nicht aus einem Leichensack, sondern aus einem Schaumbad.
    Die Ärztin räusperte sich. Ich sah zu ihr auf und lächelte. »Das ist nicht mein Großvater.«

Fenghuang , den 23. Mai
    Meine Lieben,
    ein schöner Tag war das heute, der schönste unserer Reise, der schönste überhaupt seit Langem. Ich liege allein in einem Herbergszimmer in Fenghuang und versuche, nicht auf die Geräusche aus dem Nebenzimmer zu achten. Morgen wird die Reise wohl zu Ende sein, so oder so. Und auf einmal stimmt auch mich das traurig. Ich werde China vermissen, ich werde Großvater in China vermissen, ich werde sogar Dai vermissen, obwohl ich sie nur so kurz kennenlernen durfte.
    Wahrscheinlich habt Ihr Euch, genau wie ich, längst gewundert, dass Dai so gut Deutsch spricht. Gestern Nacht auf der Fahrt habe ich sie danach gefragt, und sie hat mich überrascht angeblickt. »Ach, das ist Deutsch?« Wie sich herausstellte, spricht Dai nämlich ein gutes Dutzend Sprachen, sie sei in ihrer Jugend viel herumgekommen, und Schanghai sei nun einmal eine ziemlich internationale Stadt. Allerdings wisse sie von den wenigsten Sprachen, wie sie heißen oder wo sie gesprochen werden. Sie hat dann ganz interessiert nachgefragt, und Großvater und ich haben ihr viel von Deutschland erzählt, von seiner Landschaft, seiner Geschichte, von der Politik, der Musik, dem Essen, und Dai hat mit großen Augen zugehört, dann hat sie gelacht und gesagt: »Ach kommt, das denkt ihr euch doch alles gerade aus.«
    Nach ein paar Stunden Schlaf weckte mich Dai . Ob ich nun einmal das Steuer übernehmen könne, fragte sie, die nächsten fünf, sechs Stunden gehe es nur noch geradeaus. Wir tauschten die Plätze, Dai schlief sofort ein, und auch Großvater fielen die Augen zu, aber ich wollte nicht all eine hier sitzen, ich wollte nicht wieder sein Fahrer sein. »Du schuldest mir noch das Ende deiner Geschichte«, sagte ich deshalb. Großvater blinzelte, die erzähle er mir morgen, sagte er, aber das ließ ich nicht gelten. »Ich fahre hier mitten in der Nacht hunderte von Kilometern zu einem Ort, der nicht im Entferntesten auf unserer Reiseroute liegt«, sagte ich, und dass ich wohl ein Recht hätte zu erfahren, was genau er eigentlich suche. Und außerdem habe er Dai anscheinend schon alles erzählt, was ja wohl ungerecht sei. Großvater rieb sich die Augen, setzte sich aufrecht hin, nickte ein paar Mal, dann sagte er: »Wenn ich wüsste, was gen au ich suche, hätte ich es dir längst gesagt.« Er schaute verschlafen aus dem Fenster, die Industriegebiete hatten wir hinter uns gelassen, jetzt fuhren wir durch fast unbebaute Landschaft, in der Ferne leuchteten irgendwelche Städte, deren Namen wir nicht kannten, es gab kaum Verkehr, nur hin und wieder überholte uns ein Lastwagen, ein Viehtransporter, ein laut klingelndes Fahrrad.
    » Lian ist tot«, sagte Großvater schließlich. »Und all das ist schon so lange her, dass ich manchmal befürchte, es mir nur eingebildet zu haben.« Er sah mich jetzt an. »Ich will einfach nur eine handfeste Erinnerung, verstehst du?« Die Zeit mit Lian sei so schrecklich kurz gewesen, aber das hätten sie natürlich nicht wahrhaben wollen, und so gebe es keine Andenken aus dieser Zeit, keinen Liebesbrief, keine Haarlocke, keine getrocknete Kartoffelschale, keinen Kieselstein von ihrem gemeinsamen Abend am Ufer.
    Es blieb, sagte Großvater, bei dieser einzigen Liebesnacht.
    Denn beide wussten sie, dass eine solche Nacht in dieser Unbeschwertheit nicht zu wiederholen war. Großvater sei anschließend in eine lähmende Traurigkeit verfallen. Kaum anschauen konnte er Lian am nächsten Tag, denn auf einmal waren die Zeichen ihrer Krankheit nicht mehr zu übersehen.
    Von Tag zu Tag wurde sie nun blasser, tiefe Ringe bildeten sich unter ihren Augen, das Haar fiel ihr büschelweise aus, die Fingernägel brachen, auch strömte sie nun fortwährend einen süßlichen Geruch aus. Bis heute, sagte Großvater, ertrage er deshalb keine Kondensmilch.
    Lian trat zwar nach wie vor jeden Abend im Variete auf, aber ihre Hanteln wurden immer leichter, das Finale mit der Pyramide sogar ganz gestrichen, und hin und wieder stemmte sie nur lustlos die ersten paar Gewichte, bevor sie ohne eine Verbeugung die Bühne verließ, das Publikum murrte immer häufiger,
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