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Der Junker von Ballantrae

Titel: Der Junker von Ballantrae
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Bäche, die in den Champlainsee fließen, einen Inlandsee. Es war deshalb möglich, auf direktem Wege dorthin zu gelangen, ohne den blutbedeckten Pfad der Flüchtlinge zu verfolgen. In ungefähr sechzehn Stunden konnte der Weg zurückgelegt werden, zu dem sie bei ihren wirren Wanderungen mehr als sechzig gebraucht hatten. Unsere Boote ließen wir mit einer Wache am Fluß zurück, und es war wahrscheinlich, daß wir sie bei unserer Rückkehr eingefroren vorfinden würden. Die geringfügige Ausrüstung, mit der wir aufbrachen, schloß nicht nur eine Unmenge Pelze ein zum Schutz gegen die Kälte, sondern auch viele Schneeschuhe, die das Fortkommen ermöglichen sollten, wenn der unvermeidliche Schnee gefallen war. Der Aufbruch geschah unter den größten Vorsichtsmaßregeln, der Marsch ging in soldatischer Disziplin vor sich, das Nachtlager wurde sorgfältig gewählt und bewacht, und Überlegungen dieserArt waren es, die uns am zweiten Tage nur einige hundert Meter von unserem Ziel entfernt aufhielten. Die Nacht war bereits nahe, der Ort, an dem wir uns befanden, für ein Lager, das so vielen Menschen dienen sollte, vorzüglich geeignet, und Sir William beschloß deshalb plötzlich, den Vormarsch zu unterbrechen.
    Vor uns lag die hohe Bergkette, der wir den ganzen Tag unentwegt näher gerückt waren. Seit dem ersten Lichtstrahl in der Frühe waren ihre silbernen Gipfel das Ziel unseres Vormarsches gewesen, wir waren durch einen mit dichtem Unterholz bestandenen ebenen Wald marschiert, den reißende Ströme durchquerten. Überall lagen gewaltige Felsblöcke. Die Gipfel waren, wie ich bereits sagte, silbern, denn in den Höhenlagen fiel nachts schon Schnee, während in den Wäldern und im Tal Frost herrschte. Den ganzen Tag war der Himmel behangen mit finsteren Nebeln, in denen die Sonne wie ein Schillingstück schwamm und schimmerte, den ganzen Tag blies der Wind bitter kalt gegen unsere linke Seite, und das Atmen war schwer. Gegen Ende des Nachmittags flaute der Wind jedoch ab, die Wolken erhielten keinen Zuzug und zerstreuten oder verflüchtigten sich. Die Sonne ging in unserem Rücken mit winterlicher Pracht unter, und das weiße Gewand der Berge lag in sterbendem Glanz.
    Es war bereits dunkel, als wir unser Abendessen einnahmen; wir aßen schweigend, und das Mahl war kaum vorüber, als der Lord sich vom Feuer entfernte und zum Rande des Lagers ging, wohin ich ihm rasch folgte. Das Lager war auf einer Erhöhung aufgeschlagen,von der man einen zugefrorenen See überblicken konnte, der in seiner größten Ausdehnung eine Meile breit sein mochte. Ringsumher lag der Wald mit seinen Höhen und Tälern, darüber erhoben sich die weißen Berge, und noch höher schwamm der Mond am hellen Himmel. Kein Luftzug rührte sich, kein Zweig knackte, und die Geräusche unseres Lagers wurden von der großen Stille erdrückt und aufgesogen. Nachdem nun die Sonne und der Wind beide geschwunden waren, schien es fast warm zu sein wie in einer Julinacht: eine eigenartige Illusion der Sinne, da Erde, Luft und Wasser von schärfstem Frost erfüllt waren.
    Der Lord, oder was ich noch immer mit diesem geliebten Namen bezeichnete, stand da, den Ellenbogen in der einen Hand, das Kinn in der anderen, und starrte regungslos auf die Wipfel des Waldes. Meine Augen folgten derselben Richtung und ruhten fast wohlgefällig auf den gefrorenen Formen der Pinien, die auf mondbeschienenen Hügeln ragten oder in den Schatten kleiner Täler versanken. Ganz in der Nähe, so sagte ich mir, war das Grab unseres Feindes, der nun dahin gegangen war, wo die Verworfenen niemand mehr wehe tun, die Erde gehäuft auf seinen einst so lebendigen Gliedern. Ich mußte ihn fast für glücklich halten, da er jetzt irdischer Sorge und Mühe entronnen war, dieser täglichen Geistesqual und diesen Wassern des Schicksals, das wir täglich unter vielen Gefahren zu durchschwimmen haben, um Schande oder Tod zu ernten. Ich konnte mir nicht verhehlen, daß es gut sei, die lange Reise beendet zu haben, und dann wandte sich mein Geist dem Lord zu.War der Lord nicht auch tot? War er nicht ein verwundeter Soldat, der vergebens nach Ablösung Ausschau hält und sich wie ein Spottbild in der Kampffront herumtreibt? Ich dachte daran, welch liebenswürdiger Mensch er gewesen war, klug, mit bescheidenem Stolz, ein allzu pflichtgetreuer Sohn, ein allzu liebender Gatte, der leiden und schweigen konnte, und dessen Hand ich zu drücken liebte. Plötzlich stieg in meiner Kehle das Mitleid in einem
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