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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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existieren und verschwänden. Er verabscheut häßliche alte Körper; wenn er an alte Leute denkt, die sich ausziehen, schaudert ihm. Er hofft, daß in der Badewanne in ihrem Haus in Plumstead nie ein alter Mensch gesessen hat.
      Sein eigener Tod ist etwas anderes. Nach seinem Tod ist er immer irgendwie anwesend, schwebt über der Szene, genießt den Kummer derer, die an seinem Tod schuld sind und die nun, wo es zu spät ist, wünschten, er wäre noch am Leben.
      Schließlich geht er doch mit seiner Mutter zu Tante Annies Begräbnis. Er geht mit, weil sie ihn darum bittet, und er läßt sich gern bitten, genießt das Machtgefühl, das es ihm verleiht; er geht auch mit, weil er noch nie ein Begräbnis erlebt hat und sehen möchte, wie tief sie das Grab ausheben, wie der Sarg hineingesenkt wird.
      Es ist bei weitem kein Begräbnis in großem Stil. Es gibt nur fünf Trauergäste und einen jungen niederländisch-reformierten Pfarrer mit Pickeln. Die fünf sind Onkel Albert mit Frau und Sohn, seine Mutter und er selbst. Er hat Onkel Albert jahrelang nicht gesehen. Er geht völlig krumm an seinem Stock; Tränen strömen aus seinen blaßblauen Augen; die Ecken seines Kragens stehen ab, als hätte ihm ein anderer den Schlips gebunden.
      Der Leichenwagen trifft ein. Der Bestattungsunternehmer und sein Assistent sind in feierlichem Schwarz, viel eleganter gekleidet als sie alle (er trägt seine St.-Joseph-Schuluniform, einen Anzug besitzt er nicht). Der Pfarrer sagt ein Gebet in Afrikaans für die dahingeschiedene Schwester; dann fährt der Leichenwagen rückwärts ans Grab heran und der Sarg wird herausgeschoben und auf Pfählen über dem Grab abgesetzt. Zu seiner Enttäuschung wird er nicht ins Grab hinabgelassen – das muß warten, scheint es, bis die Friedhofsarbeiter eintreffen –, doch der Bestattungsunternehmer bedeutet ihnen diskret, daß sie Erde darauf werfen können.
      Ein leichter Regen setzt ein. Die Sache ist erledigt; sie können gehen, können sich wieder ihrem eigenen Leben zuwenden.
      Auf dem Weg zurück zum Tor, durch alte und neue Grabfelder, geht er hinter der Mutter und ihrem Cousin,
      Alberts Sohn, die leise miteinander reden. Sie haben den gleichen stapfenden Gang, stellt er fest, die gleiche Art, die Beine zu heben und wuchtig niederzusetzen, links, dann rechts, wie Bauern in Holzpantinen. Die du Biels aus Pommern – Bauern vom Land, zu langsam und schwer für die Stadt; nicht zu Hause dort.
      Er denkt an Tante Annie, die sie hier im Regen zurückgelassen haben, im gottverlassenen Woltemade, denkt an die langen schwarzen Klauen, die ihr die Schwester im Krankenhaus abgeschnitten hat, die keiner mehr abschneiden wird.
      »Du weißt so viel«, hat Tante Annie mal zu ihm gesagt. Es war kein Lob; obwohl ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen waren, schüttelte sie gleichzeitig den Kopf. »So jung und weißt schon so viel. Wie willst du das alles im Kopf behalten?« Und sie beugte sich vor und pochte mit knochigem Finger an seinen Schädel.
      Der Junge ist was Besonderes, hat Tante Annie zu seiner Mutter gesagt, und die Mutter hat es ihm weitergesagt. Aber in welcher Beziehung besonders? Keiner hat ihm das gesagt.
      Sie sind beim Tor angekommen. Es regnet heftiger. Ehe sie ihre beiden Züge erreichen, den Zug nach Salt River und dann den Zug nach Plumstead, müssen sie durch den Regen zum Bahnhof von Woltemade stapfen.
      Der Leichenwagen fährt an ihnen vorbei. Die Mutter hebt die Hand, um ihn anzuhalten, spricht mit dem Bestattungsunternehmer. »Sie nehmen uns in die Stadt mit«, sagt sie.
      Also muß er in den Leichenwagen klettern und eingequetscht zwischen der Mutter und dem Bestattungsunternehmer sitzen und gemächlich die Voortrekker Road herunterfahren, sie dafür hassend und hoffend, daß keiner aus seiner Schule ihn sieht.
      »Die Dame war Lehrerin, glaube ich«, sagt der Bestattungsunternehmer. Er hat einen schottischen Akzent. Ein Einwanderer – was kann der von Südafrika wissen, von Leuten wie Tante Annie?
      Noch nie hat er einen behaarteren Mann gesehen. Schwarze Haare sprießen ihm aus der Nase und den Ohren, ragen in Büscheln aus seinen gestärkten Manschetten.
      »Ja«, sagt die Mutter, »sie hat über vierzig Jahre lang unterrichtet.«
      »Dann hat sie etwas Gutes hinterlassen«, sagt der Bestattungsunternehmer. »Ein vornehmer Beruf, der Lehrerberuf.«
      »Was ist mit Tante Annies Büchern geschehen?« fragt er später die Mutter, als sie wieder
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