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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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Krieg, den er gegen den Vater geführt hat, konnte er nie ganz sicher mit seinem Bruder rechnen. Soweit seine Erinnerung zurückreicht, haben die Leute immer festgestellt, daß der Bruder dem Vater ähnlich sieht, während er nach der Mutter geraten ist. Er hegt den Verdacht, daß der Bruder ein weiches Herz dem Vater gegenüber hat; er hegt den Verdacht, daß der Bruder mit seinem blassen, ängstlichen Gesicht und dem zuckenden Lid ganz allgemein ein Weichling ist.
      Es ist sicher das beste, sich von seinem Zimmer fernzuhalten, damit er, wenn es hinterher Fragen gibt, sagen kann: »Ich habe mich mit meinem Bruder unterhalten«, oder: »Ich habe in meinem Zimmer gelesen«. Doch er kann seine Neugier nicht zügeln. Auf Zehenspitzen schleicht er zur Tür, stößt sie auf, schaut ins Zimmer.
      Es ist ein warmer Sommermorgen. Es ist still, so still, daß er das Tschilpen der Spatzen draußen hören kann, das Flattern ihrer Flügel. Die Jalousien sind herabgelassen, die Vorhänge zugezogen. Es riecht nach Männerschweiß. In der Dunkelheit kann er erkennen, daß der Vater auf seinem Bett liegt. Aus seiner Kehle dringt ein leises Röcheln.
      Er tritt näher. Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit.
      Der Vater hat Schlafanzughosen und ein Baumwollunterhemd an. Er ist unrasiert. Am Hals zeigt sich ein rotes V wo die Sonnenbräune in die blasse Brust übergeht. Neben dem Bett befindet sich ein Nachttopf, in dem Zigarettenstummel in bräunlichem Urin schwimmen. Etwas Abstoßenderes hat er im Leben nicht gesehen.
      Tabletten sind nicht zu sehen. Der Mann liegt nicht im Sterben, er schläft bloß. Er hat nicht den Mut, Schlaftabletten zu nehmen, wie er auch nicht den Mut hat, sich nach Arbeit umzusehen.
      Seit dem Tag, als der Vater aus dem Krieg zurückkehrte, haben sie miteinander gekämpft, in einem zweiten Krieg, aus dem sein Vater keine Chance hatte, als Sieger hervorzugehen, weil er niemals hätte ahnen können, wie erbarmungslos, wie zäh sein Feind sein würde. Sieben Jahre hat sich dieser Krieg fortgeschleppt; heute hat er den Sieg errungen. Ihm ist zumute wie dem russischen Soldaten am Brandenburger Tor, der über den Ruinen von Berlin die rote Fahne hißt.
      Doch gleichzeitig wünscht er sich, nicht hier zu sein und Augenzeuge der Schande zu werden. Das ist gemein! möchte er heulen – ich bin doch nur ein Kind! Er wünscht sich, jemand, eine Frau, würde ihn in die Arme nehmen, seine Wunden stillen, ihn trösten, ihm sagen, es sei nur ein böser Traum. Er denkt an die Wange seiner Großmutter – weich und kühl und trocken wie Seide – ihm zum Kuß dargeboten. Er wünscht sich, die Großmutter würde kommen und alles in Ordnung bringen.
      In der Kehle des Vaters sammelt sich Schleim. Er hustet, dreht sich auf die Seite. Er öffnet die Augen, die Augen eines Mannes bei vollem Bewußtsein, der genau weiß, wo er ist. Die Augen erfassen ihn, wie er dasteht, wo er nicht sein sollte, und spioniert. In den Augen ist keine Verurteilung, doch auch keine Freundlichkeit.
      Träge bewegt sich die Hand des Mannes nach unten und ordnet die Schlafanzughose.
      Er erwartet eigentlich, daß der Mann etwas sagt, irgend etwas – »Wie spät ist es?« –, um es ihm leichter zu machen. Doch der Mann sagt nichts. Die Augen betrachten ihn immer noch, friedlich, abwesend. Dann schließen sie sich, und er ist wieder eingeschlafen.
      Er kehrt in sein Zimmer zurück und schließt die Tür.
      Manchmal hebt sich die düstere Stimmung. Die geschlossene Wolkendecke, die für gewöhnlich dicht über seinem Kopf ist, nicht so nah, daß man sie berühren kann, doch auch nicht viel weiter weg, öffnet sich einen Spalt, und für eine Minute kann er die Welt sehen, wie sie wirklich ist. Er sieht sich selbst in seinem weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und den grauen kurzen Hosen, aus denen er bald herausgewachsen sein wird – kein Kind mehr, nicht das, was ein Vorübergehender als Kind bezeichnen würde, dafür ist er jetzt zu groß, zu groß, um diese Entschuldigung geltend zu machen, doch immer noch so einfältig und versponnen wie ein Kind: kindisch; töricht; dumm; zurückgeblieben. In einem solchen Augenblick kann er auch den Vater und die Mutter von oben, ohne Zorn sehen: nicht als zwei graue und gestaltlose Gewichte, die auf seinen Schultern lasten, Tag und Nacht sein Unglück planen, sondern als einen Mann und eine Frau, die ihr eigenes tristes und sorgenreiches Leben leben. Der Himmel öffnet sich, er
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