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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Autoren: Ian Brown
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seine Schuld. Er wollte sich bloß an das halten, was er wusste, und nicht spekulieren. Aber ohne zu spekulieren, war Walkers Gehirn besonders schwer zu durchdringen und zu erfassen.
    Dann zeigte er mir ein Bild vom MRT meines Sohns.
    Es war ein schwarz-weißes Bild des Corpus callosum, ein Netzwerk aus weißen Fasern, das die linke und rechte Hirnhälfte miteinander verbindet. Die Neurologen verstehen relativ wenig vom Corpus callosum – eine Behauptung, die man oft von den Neurologen selbst hört, mutige und ehrliche Wissenschaftler, die sie sind. Beuteltiere kommen ohne es aus, und man weiß von Menschen, die trotz schwerer Schäden an diesem Hirnbalken ganz gut funktioniert haben, aber im Allgemeinen benötigen Säugetiere ihn. »Er besteht aus Axonen«, sagte Raybaud – Bündel von Axonen bilden die Nervenfasern, die elektrische Impulse vom Zellkörper einer Nervenzelle ableiten –, »Hunderte Milliarden Axone, und er ist mit jedem Teil des Gehirns verknüpft, außer dem für die Sehnerven und die Fingerspitzen.« Zunächst zeigte mir der Arzt eine Seitenansicht vom Schnitt durch ein normales Corpus callosum: Der Teil, den ich sehen konnte, sah wie ein toter Flussarm aus oder ein langes Ballontier auf einer weißen Fläche.
    Dann zeigte er mir Walkers. Er sah nicht aus wie ein Flussarm oder ein Ballondackel. Er sah aus wie ein dünnes Rinnsal mit einem Teich am Ende, wie eine Sehne, eine einzige Schote einer Gartenerbse, ein Bruchteil der Breite eines normalen Corpus callosum.
    Es ist schwer zu beschreiben, wie schnell mich das vernichtete. Ich merkte, dass ich sogar leicht ins Keuchen geriet. »Das bedeutet also, dass im Gehirn Ihres Sohnes ein Mangel an Verknüpfungen besteht. Und speziell betrifft das die Koordination der Funktionen zwischen den beiden Gehirnhälften.« Der Corpus callosum ist der Informationshighway des Gehirns. Walkers Gehirn hatte einen schäbigen Browser abonniert, der dauernd zusammenbrach und die Nachrichten falsch zustellte. Sein Geist war hoffnungslos desorganisiert.
    Ich konnte alles auf den Bildern von seiner Kernspintomographie sehen – seine Zunge, seine Mandeln, seine Kehle, seine Wirbelsäule, seinen kleinen Schädel, die Schatten seines gebrechlichen und unvollständigen Gehirns. So war er: Er enthüllte den Zustand seines Geistes, so wie er war, nur indirekt, durch Rückschlüsse und Ableitungen, indem er zeigte, was nicht da war, die Schatten, die von dem herrührten, was das Licht blockierte. Ein Junge, den ich hauptsächlich in den Ruhephasen erkennen konnte, nur in dem, was übrig geblieben war. Wie die Liebe, manchmal. Wie alles, das sich zu unserer eigenen Überraschung als wichtig herausstellt. Wie wenn man auf eine Landkarte schaut, eine seltsame alte Landkarte aus einer anderen Epoche oder sogar noch weiter zurück – aus einem anderen Äon. Kein Schatz, leider. Nur Fragen, auf einem Magnetbild eines Gehirns.
    Ich muss mich in den Bildern verloren haben, allmählich wurde mir bewusst, dass Raybaud sprach, wobei die mittelalterlich klingenden Begriffe von Hirnarealen ihm über die Lippen gingen, während er weitere Bilder von Walkers Kopf betrachtete. Walker hatte große cerebrospinale Hohlräume, aber im Rahmen des Normalen. »Fünfzig Prozent des Gehirns ist weiße Substanz, und er hat nicht viel davon. Ich würde sagen, sein Vorderhirn ist ein bisschen zu klein.« Sein Hippocampus, besonders sein medialer Schläfenlappen, hatte zu wenige Furchen. Die graue Substanz des Gehirns, die gezackte Oberfläche, ist der Ort, woher der Inhalt unserer Gedanken und Assoziationen stammt (meine Erinnerung an den Geruch getrockneter Ersatznahrung, mein Erinnerungsbild von Walkers weinendem Gesicht). Walker hatte ebenfalls weniger graue Materie als die meisten anderen Menschen, erläuterte Raybaud, sodass, selbst wenn sein Informationsübermittlungs-System gesund gewesen, sein Inhalt dennoch von vornherein rudimentär gewesen wäre. »Das Gehirn«, Raybaud gab zu, dass er vom »Gehirn« sprach, um sich besser von dem Kind, das er beschrieb, distanzieren zu können, »ist zu klein.« Darüber hinaus war es schwierig zu sagen, was genau nicht stimmte. Denn trotz aller physiologischen Mängel, die die MRT enthüllte, blieben die funktionalen Probleme in Walkers Gehirn, die fehlgeleitete elektrische Aktivität, unsichtbar.
    Ich hatte mir die Untersuchung von Walkers Gehirn bis zuletzt aufgehoben und hoffte, sie würde ihn mir endlich ganz enthüllen. Aber sein Gehirn hatte mir
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