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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Autoren: Ian Brown
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nächsten.
    War Walker, ohne ein verständliches Gehirn, ein verständlicher Junge? Wenn er nicht verständlich war, worin lag dann sein Wert? Zu Hause redete ich endlos darüber, aber Johanna verstand mich nicht so recht. Er war der Junge, der er war, und sie war seine Mutter. Ohne Walker unentwegt im Haus, der all ihre Zeit in Anspruch nahm, hatte sie wieder begonnen, mehr zu schreiben, konzentrierte sich mehr auf Hayley, machte Sport. Ich fragte mich, welche Gestalt der fehlende Junge in ihrem Kopf, in ihrem Körper annahm. Sie beschäftigte sich zwanghaft mit Kreuzworträtseln, Sudoku, Brain Age, einem gewaltigen Puzzle in zweitausend Teilen von Munchs Der Schrei , jeder Art von Freizeitbeschäftigung, die eine große und obsessive Aufmerksamkeit verlangte. Ich versuchte, Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft zu lesen, beobachtete sie heimlich von der anderen Zimmerecke aus und fragte mich, ob sie sich wohl langweilte.
    Hatte es irgendwann in Walkers Kindheit einen Punkt gegeben, als die Ärzte begriffen, wie schwer sein Leben werden würde? Wenn es so war, haben sie es nie erwähnt. Ganz im Gegenteil: Als Walker am Anfang seines Lebens darum rang, zuzunehmen und zu überleben, war das einzige dringliche Signal, das ich von seinen Ärzten erhielt, immer noch größere und gewissenhaftere Anstrengungen zu unternehmen. Die Worte seines Kinderarztes Norman Saunders klingen mir immer noch in den Ohren: Wir wollen doch, dass dieser Junge überlebt, oder? Es stellte sich heraus, dass wir das tatsächlich wollten, obwohl ich mir damals nicht immer so ganz sicher war.
    Dr. Bruce Blumberg, ein Mitglied des Teams der Genetiker, die das CFC -Syndrom als Erste identifiziert hatten, berät seit dreißig Jahren Eltern, die vor ähnlichen genetischen Dilemmas stehen, die meisten von ihnen am Kaiser Permanente Hospital in Oakland, Kalifornien. Er gibt zu, dass Optimismus die Standardeinstellung seiner Profession ist. Stellen Sie sich schließlich die Szene mal vor: die verstörten Eltern eines ernstlich beschädigten Kindes, erschöpft vom nächtlichen Suchen im Internet und voller Angst; das Leben des Babys ist in der Schwebe. »Ich muss sehr häufig«, erzählte mir Blumberg, »um eine Balance zu erreichen, das Positive betonen. Und gleichzeitig wollen die Eltern ja auch unbedingt hoffen. Und es ist leichter, etwas Positives zu sagen. Es ist leichter zu lächeln. Ich bin mit Patienten schon durch alles Mögliche hindurchgegangen. Es ist schwer. Ich denke daher, dass es für Ärzte manchmal auch eine Form der Vermeidung ist.« Wenn er das Problem schon nicht lösen konnte, konnten wenigstens die Eltern eine Art Bestätigung erhalten. Wenn Blumberg Eltern dazu drängte, solch ein Kind zu bekommen, riskierte er es, sie zu einem Leben in der Hölle zu verurteilen.
    Aber dieses Dilemma ist auch wieder künstlich. Das wahre Problem, sagte Dr. Blumberg zu mir an jenem Morgen in seinem Büro in Oakland, liegt in unserem Unwillen zu akzeptieren, dass ein behindertes Leben einen echten Wert besitzt, so wie es ist – besonders, wenn dieser Wert verlangt, dass man sich auf Hände und Knie niederlässt und danach sucht. »Familien finden oft, dass das Aufziehen eines behinderten Kindes ein Geschenk ist, aller Härte zum Trotz«, sagte er. »Das schafft neue Beziehungen, bringt neue Fähigkeiten ans Licht. Der Trick besteht darin, die Idee des möglichen Kindes aufzugeben und das tatsächliche Kind zu akzeptieren.«
    Blumberg ist mit medizinischen Katastrophen vertraut. Er wurde als Junge auf einem Auge blind, als er seinem Vater dabei half, Düngemittel zu verstreuen. Er machte weiter und wurde Arzt, indem er an einigen des besten Universitäten auf der Welt studierte. »Es ist arrogant von uns anzunehmen, dass diese Zustände weniger wert sind als normale Zustände«, sagte er. »Wenn man einen IQ von 60 hat, dann ist das in unserer Gesellschaft eine ernsthafte Einschränkung. Aber wenn man ein Landarbeiter mit Migrationshintergrund ist, dann ist das vielleicht völlig in Ordnung, reichlich. Wer kann also sagen, dass der Zustand non-verbaler Verzückung, den Sie bei Ihrem Sohn beschreiben, weniger wert ist? Wer kann das sagen? Wir sind so arrogant zu glauben, dass Empfindungsvermögen alles ist, was zählt. Es ist nicht alles, was zählt. Ein Mammutbaum ist kein empfindungsfähiges Wesen. Aber er zählt. Es gibt nichts Großartigeres. Er verlangt nicht danach, dass ich eigens darüber nachdenken muss, um ihn zu bewundern. Ich möchte die
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