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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Autoren: Siobhan Dowd
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ihm ein halber Marsriegel, die Einwegkamera und die Kleider geblieben, die er trug, das war alles.
    Unser Arzt kam vorbei, um ihn zu untersuchen. Er erklärte, Salim hätte einen Schock erlitten, sei aber stabil. Er hätte sich tapfer geschlagen, meinte der Arzt und verordnete heiße Suppeund Bettruhe. Dad rief bei der Polizei an und berichtete, dass wir ihn gefunden hatten.
    Am nächsten Tag unterhielten sich Tante Gloria, Rashid und Salim den ganzen Morgen leise im Wohnzimmer. Ich weiß nicht, was sie sagten, aber danach verkündete Tante Gloria, dass Salim es für eine Probezeit von sechs Monaten mit New York versuchen wollte. Diesmal war es sein eigener Wunsch, sagte sie, und nicht nur ihrer.
    Rashid reiste ab. Er dankte uns für alles, was wir getan hatten. Er und Salim würden uns oft besuchen, versprach er, wenn Salim in den Ferien nach Hause kam. Als er zur Haustür hinausging und durch unseren briefmarkengroßen Vorgarten lief, drehte er sich noch einmal um und blickte Tante Gloria an, die neben mir stand. Ihre Hand krallte sich an meiner Schulter fest.
    Â»Gloria«, sagte er.
    Â»Rashid«, sagte sie.
    Ein Augenblick verstrich. Rashid zuckte mit den Schultern. Seine Augen waren wie die von Salim, fiel mir auf, dunkel und rautenförmig. »Viel Spaß in New York wünsche ich euch«, sagte er. Seine Mundwinkel hoben sich ganz leicht. Er winkte.
    Â»Wir tun unser Bestes, Rashid«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«
    Â»Wiedersehen.« Seine Hand sank nach unten. Er ließ die Schultern hängen. Dann drehte er sich um und ging die Rivington Street hinunter. Mein Kopf kippte zur Seite, während ich ihm nachschaute, und er blickte noch ein letztes Mal zurück, ehe er an der Ecke verschwand.
    Nach Rashids Abreise wollte Salim Kat und mich sprechen. Er lag mit mehreren Kissen gut gepolstert auf dem Sofa. Sein Oberlippenflaum war nachgewachsen und sogar stärker zu sehen als vorher. Mir fiel wieder ein, wie er Rasieren mit Rasenmähen verglichen hatte. Er wollte alles wissen. Wie wir drauf gekommen wären. Er lächelte über jedes Detail der Geschichte, besonders über die Sache mit der Motorrad-Show. Kat erzählte die meiste Zeit.
    Als sie fertig war, fügte sie hinzu: »Salim, ich muss es einfach akzeptieren. Mein verrückter Bruder ist ein Genie.«
    Salim sah mich an. »Du bist wirklich ein Strinner, Ted. Nur dass es nicht Streber und Spinner bedeutet. Sondern strategischer Gewinner.«
    Er und Kat lachten darüber, also tat ich es auch. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich inzwischen nicht nur drei Freunde hatte, sondern fünf: Mum, Dad, Mr Shepherd, Kat und Salim. Und das gefiel mir.
    Â»Was war das Schlimmste daran, in dem Haus eingesperrt zu sein, Salim?«, fragte Kat.
    Salim vergrub sich tiefer in seine Kissen. »Puh. Das wollt ihr doch nicht wirklich wissen?«
    Â»Doch, wollen wir«, sagte Kat.
    Â»Ich glaube, die Geräusche. Die in der Nacht. Ich habe auf der Matratze gelegen und den Wind gehört. Wie er durch das Hochhaus heulte, rauf und runter, überall. Dann begann das Getappe und Geseufze, so komische Gurgellaute. Geräusche, die ich nicht einordnen konnte. Getrippel – vielleicht irgendwelche Viecher an der Wand? Ratten? Kakerlaken? Und das Flattern von Flügeln. Fledermäuse oder Tauben? Ich lag in der Dunkelheit, zog mir die Jacke über den Kopf, presste die Ohren gegen meine Arme, aber ich konnte sie immer noch hören. Dann landete irgendwas auf meiner Wange. Ich fuhr hoch und brüllte wie am Spieß …«
    Â»Okay, okay«, sagte Kat und hielt sich die Ohren zu. »Tut mir leid, dass ich gefragt hab.«
    Â»Es war auch nicht alles schlimm«, sagte Salim.
    Â»Nein?«
    Â»Am Tag war es okay. Ich hab nach dem Wetter gesehen. Ich war ganz dicht an den Wolken dran. Und dann kam dieses Gewitter. Ich sah flackernde Blitze über London. Dann diese finsteren heftigen Regengüsse. Und dann, wie die Sonne wieder herauskam. Ich habe fotografiert. Häuser und Himmel. Die eine Hälfte von London war dunkel, die andere hell und sonnig. Der Fluss wand sich durch beide Hälften, wie eine dünne Silberschlange, und genau in der Mitte, zwischen den beiden Teilen, ragte das weiße Riesenrad auf. Ich hab ein Foto davon gemacht, Kat. Das letzte Bild der Einwegkamera, aber das beste, das ich je geschossen habe.«
    An diesem Nachmittag bekamen Kat und ich ein
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