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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Autoren: Siobhan Dowd
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Schlüssel auf. Innen war ein Schalter, den er betätigte. Danach drückte er eine ganze Reihe von Schaltern neben der Tür.
    Licht. Die Eingangshalle des Hochhauses erwachte zum Leben. Die nächste Tür, die zum Treppenhaus führte, der nächste Schlüssel, mehr Licht. »Salim! Salim!«, brüllten wir.
    Immer weiter hinauf. Stockwerk für Stockwerk. Kat und ich waren am schnellsten. Ich wusste, wo wir Salim finden würden. Bestimmt ganz oben im vierundzwanzigsten Stock. Auf der fünfzehnten Etage keuchte ich nur noch. Kat war schon eine halbe Treppe weiter oben. Ich hörte ihr Gestöhne und Gejammer: »Salim, oh, oh, Salim!«
    Unsere Lungen konnten nicht mehr, als wir oben ankamen. Kat hatte Seitenstechen.
    Â»Salim«, sagte sie. Es war fast nur noch ein Flüstern.
    Auf jedem Korridor lagen vier Türen.
    Die ersten drei, bei denen wir es versuchten, waren verschlossen. Die vierte war angelehnt. Ich spürte, wie im Dunkeln etwas an meinem Fuß vorbeihuschte.
    Â»Salim …«, stammelte Kat. Sie griff nach meiner Hand. Die Hand war kalt und feucht, aber sie verhinderte, dass meine schlackerte.
    Â»Geh da nicht rein, Ted. Das gefällt mir nicht. Der Geruch, der da rauskommt. Lass uns warten. Auf Dad.«
    Wir warteten Hand in Hand im vierundzwanzigsten Stock an der offenen Tür, der Tür, die in die Dunkelheit führte. Es war das längste Warten meines Lebens. Die Theorien, alle neun, die Fotos, die Worte auf dem T-Shirt, die Gondeln des Riesenrads, alles waberte wie einzelne Schlieren durch mein Gehirn. Es gab keine weiteren Theorien. Es gab nur noch diese eine letzte Hoffnung.
    Mein Herz pochte. Die Trommelfelle meiner Ohren klopften. Das Geräusch der Zeit.
    Dad kam keuchend an. Er hielt seine Taschenlampe und stolperte durch die finstere Tür. Kat und ich schlichen hinterher.
    Â»Salim?«, sagte ich. Dad stieß eine zweite Tür auf. Der Lichtstrahl flackerte über die schmutzigen Wände.
    Â»Salim?«
    Dort fanden wir ihn. Er zitterte am ganzen Körper und wachte gerade auf, zusammengerollt wie ein Embryo in einem leeren Raum, auf einer alten Matratze, die die letzten Bewohner der Kaserne, bei ihrem Auszug liegengelassen hatten. Er lebte. Tante Gloria kam hereingestürmt, sank in die Knie und stürzte sich über ihn.
    Â»Salim!«, schluchzte sie. »Oh, Salim. Mein Liebling, mein Schatz!«

40
    Nach dem Sturm
    Stimmen, Tränen, Versöhnung: Ich erinnere mich an eine Flut aus Worten, hin und her, die meinen Kopf überschwemmte, die um mich herum-, an mir vorbei- und durch mich hindurchschwappte. Ich ging zum Fenster hinüber und hielt mir die Nase zu, um den Gestank des Hauses, den Dad als krank bezeichnet hatte, von mir fernzuhalten. Er hatte wirklich Recht gehabt. Irgendwo gurrten Tauben, die durch ein kaputtes Fenster hereingekommen waren.
    Jemand packte mich an der Schulter. Es war Dad. Während Mum und Tante Gloria Salim auf die Beine halfen und ihn in ihre Mäntel einwickelten, schauten wir zusammen aus dem Fenster. Der Sturm nahm ab und ein neuer Luftstrom, kühl und ruhig, stahl sich herein. Hinter einer Wolkenbank kam der Mond zum Vorschein.
    Da sah ich es. London aus dem vierundzwanzigsten Stock, hell schimmernd wie Raureif auf Glas. Die Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale war eine leuchtende Kurve direkt vor uns. Auf der linken Seite war das Riesenrad. Reglos, das riesige Rad eines gigantischen Fahrradrads, das gerade nicht fuhr.
    Wir gingen nach Hause.
    Mit heiserer, zittriger Stimme erzählte uns Salim, was geschehen war. Dass er seit fast drei Tagen nichts gegessen hatte. Wasser hatte er im Wasserkasten der Toilette in der leeren Wohnung gefunden. Das hatte er getrunken.
    Er hatte versucht, aus dem Fenster in der vierundzwanzigsten Etage hinunterzurufen. Niemand hörte ihn. Niemand schaute nach oben.
    Er hatte versucht, in andere Wohnungen hineinzukommen, aber alle waren abgeschlossen.
    Er hatte versucht, aus dem Treppenhaus herauszukommen. Aber die Tür unten war verriegelt.
    Er hatte tausend Dinge probiert, um aus dem Gebäude auszubrechen. Aber er schaffte es nicht.
    Er war gefangen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen. Er setzte sich dorthin, wo es hell war und man hinaussehen konnte, in die leere Wohnung im vierundzwanzigsten Stock. Er schlief auf der zurückgelassenen Matratze, trotz ihres Geruchs nach Feuchtigkeit. Von seinem Ausflug mit Marcus waren
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