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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Autoren: Siobhan Dowd
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nächsten Tag kam die Polizei. Sie sagten, Salim würde vermisst. Mum war da, und wenn ich zugegeben hätte, dass ich den Tag zuvor mit Salim verbracht hatte, wäre sie total wütend geworden. Aber als die Polizei weg war, fing ich an mir Sorgen zu machen. Wo steckte Salim bloß? Warum war er nicht zu den Sparks zurückgegangen, wie er’s gesagt hatte?
    Ich wälzte mich die ganze Nacht hin und her. Und heute hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich holte sein Handy raus, um seine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, was ich wusste. Und das tat ich. Ich schaltete es ein. Auf der Mailbox waren an die zwanzig Nachrichten, alle von ihr. Ihre Stimme klang furchtbar. Ich rief an, aber es klingelte und klingelte. Schließlich ging sie ran und ich merkte, dass ich mich einfach nicht überwinden konnte, mit ihr zu reden. Ich legte auf und schaltete das Handy wieder aus. Dann versteckte ich es unter meiner Matratze.
    Später rief mich Christy auf meinem Handy an. Er meinte, Salims Cousine und sein Cousin wären ihm bei dieser Motorrad-Show, bei der er arbeitet, in die Armegelaufen. Er hätte mich nicht verraten, aber wenn ich wüsste, wo Salim ist, sollte ich besser sofort zur Polizei gehen und ihn bitte aus der Sache raushalten. Er hat total rumgebrüllt.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte einfach nicht zur Polizei gehen. Ich würde Ärger kriegen. Dann kam die Polizei heute Abend zum zweiten Mal. Und sie wussten alles. Salims Cousin Ted hätte alles rausgekriegt, sagten sie. Sie wussten das mit der Perücke und mit dem Riesenrad und mit dem Zug. Es war, als ob Ted Spark in meinem Kopf gesessen hätte und meine Gedanken sah. Und mir fiel ein, wie Salim erzählte, sein Cousin hätte irgend so ein seltsames Syndrom, mit dem er denken könnte wie ein Riesencomputer.
    Das ist also die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich habe Salim an der Euston Station zum letzten Mal gesehen. Mehr weiß ich nicht.
    Marcus Wind

38
    Schritt für Schritt
    Als Kriminalkommissarin Pearce die Aussage von Marcus vorgelesen hatte, war es 22.03 Uhr.
    Tante Gloria bedachte ihn mit einem Blick, dessen Beschreibung jenseits der Richterskala lag. Ihre Unterlippe hing nach unten und Tränen tropften herunter, die sie nicht einmal wegzuwischen versuchte. Rashid saß wie versteinert auf dem Küchenstuhl und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Kriminalkommissarin Pearce beugte sich nach vorn, ihre Fingerknöchel traten weiß hervor.
    Â»Marcus«, sagte sie. »Ich möchte, dass du nachdenkst. Lass dir Zeit. Gibt es etwas, was Salim gesagt hat – irgendetwas –, das uns irgendeinen Hinweis darauf liefern könnte, wo er als Nächstes hingehen wollte?«
    Marcus schüttelte den Kapuzenkopf. »Nein. Mehr nicht. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Er hat gesagt, er würde sofort hierhin zurückfahren. Ich schwör’s bei Gott.«
    Â»Und sagte er auch, wie?«
    Â»Nein. Er hatte eine Dauerkarte. Die hat er mir vorher nochgezeigt.« Marcus zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Die Polizistin, die sich um ihn kümmerte, legte ihm einen Arm um die Schulter.
    Â»Ich möchte jetzt nach Hause«, tönte seine gedämpfte Stimme unter der Kapuze hervor.
    Die Kommissarin nickte. »Bringen Sie ihn zum Zug«, sagte sie. »Falls ihm noch irgendetwas einfällt, verständigen Sie mich bitte sofort.«
    Marcus wurde zur Tür gebracht, aber gerade als er gehen wollte, erhob sich Gloria.
    Â»Marcus«, sagte sie. In der Küche wurde es still. Marcus hielt inne, ohne sich umzudrehen.
    Â»Ich möchte, dass du es weißt, Marcus. Lass dir das von mir gesagt sein, von Salims Mutter: Das alles ist nicht deine Schuld.«
    Sie setzte sich stöhnend wieder hin.
    Marcus schlurfte zu ihr hinüber. »Ich hab vergessen, Ihnen das hier zu geben«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. Darin lag Salims Handy. Tante Gloria nahm es mit zitternden Fingern entgegen und presste es an ihre Wange.
    Â»Ach, Salim«, flüsterte sie. »Wo bist du nur?«
    Marcus und die Beamtin, die ihn begleitete, verließen das Haus.
    Kommissarin Pearce berührte Tante Gloria an der Schulter und erklärte, dass sie aufs Hauptrevier zurückfahren und eine Suchaktion in ganz London starten würde. Die Mitarbeiter der U-Bahn und sämtliche Busfahrer, die über Euston gefahren waren, würden befragt werden. Man würde
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