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Der Jünger

Der Jünger

Titel: Der Jünger
Autoren: Sharon Sala
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Gerüchten zufolge, die man sich auf der Straße erzählte, war er buchstäblich zur Hölle gefahren und verbrachte nun sein Leben damit, von diesem prägenden Erlebnis zu berichten.
    January hatte unter der Markise eines Secondhandshops Schutz gesucht, doch selbst hier peitschte ihr der Wind noch den Regen gegen die Beine. Dass sie nass wurde, war dabei jedoch ihr geringstes Problem. Vielmehr raubte ihr der Geruch, der von der Frau ihr gegenüber ausging, schier den Atem. Sie stellte sich mit dem Rücken zum Wind und versuchte, nicht allzu tief einzuatmen, während sie mit ihr sprach.
    “Also, Marjorie, Sie sagten, dass Sie den Sünder selbst gesehen hätten?”
    Marjorie Culver umklammerte den Griff ihres Einkaufswagens noch fester. So lange hatte niemand von ihr Notiz genommen. Diese ungewohnte Aufmerksamkeit verunsicherte sie, und sie fühlte sich verletzlich. Trotzdem glaubte sie nicht, dass ihr von der Frau mit dem Mikrofon Gefahr drohte, und sie nickte schließlich.
    “Ja … Ich hab ihn vor zwei, drei Tagen gesehen. Er stand unter einer Überführung in der Nähe vom Potomac und hat Gutscheine für ein Fischsandwich von Captain Hook verteilt. Er hatte einen ganzen Korb voll davon. Einer meinte, das wären wahrscheinlich Fälschungen, aber ich habe mir trotzdem einen geholt, und als ich den beim Drive-In mit meiner Bestellung abgegeben habe, gab's keine Beschwerden.”
    Dann lachte sie, als wäre ihr gerade aufgegangen, wie komisch es war, zu Fuß in einem Drive-In zu erscheinen.
    “Hat er da gepredigt?”, fragte January.
    Marjorie zuckte mit den Schultern. “Ich nehme mal an, so könnte man's nennen.”
    “Wie meinen Sie das?”
    “Na ja, er hatte 'ne Bibel in der Hand und so was alles, aber was er gesagt hat, klang ziemlich verrückt. Ich glaube nicht, dass es irgendwas aus der Bibel war.” Wieder zuckte sie mit den Schultern. “Es war auch egal. Kein Mensch hat ihm zugehört. Alle wollten nur den Gutschein.”
    January verstand das gut. In ihrer Jugend hatte es Tage gegeben, da hätte sie für eine warme Mahlzeit ebenfalls so einiges über sich ergehen lassen. Gott sei Dank lagen diese Zeiten nun schon lange hinter ihr.
    “Wissen Sie, wo er wohnt?”
    Marjorie runzelte die Stirn. “Überall und nirgends, nehme ich an. Ich war mir nicht sicher, aber ich dachte, er wäre einer von uns.”
    “Sie meinen, er ist obdachlos?”
    Marjorie funkelte sie an. “Manche wollen es so, wissen Sie?”
    “Ich wollte Sie nicht beleidigen, Marjorie”, versuchte January die Frau zu beschwichtigen. “Ich will nur herauszufinden, wo er ist. Ich will selbst mit ihm sprechen.”
    Mit finsterem Gesicht zog Marjorie ihren Einkaufswagen ein bisschen näher zu sich heran. Das Zeug in diesem Wagen war ihr ganzes Hab und Gut, aber vermutlich konnte nicht einmal sie mehr genau sagen, was sich überhaupt alles darin befand.
    “Na ja … Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich hab kein gutes Adressengedächtnis.”
    January seufzte. Sie war der Frau offensichtlich doch unbeabsichtigt zu nahe getreten. “Na gut”, sagte sie und tätschelte Marjorie kurz den Arm. “Vielen Dank jedenfalls, dass Sie mit mir gesprochen haben.” Sie zog fünf Zwanzig-Dollar-Scheine aus der Tasche und legte sie Marjorie in die Hand. “Nehmen Sie sich heute Nacht ein Zimmer und bestellen Sie sich etwas Schönes zu essen.”
    Marjorie blickte erschrocken auf das Geld und schien für einen Augenblick zu überlegen, ob sie das wieder als Beleidigung auffassen sollte, aber dann fegte ihr der Wind einen Schwall Regen in den Kragen. Sie nahm die Scheine und stopfte sie in eine ihrer zahlreichen Taschen.
    “Ja … Das mache ich”, sagte sie.
    “Gute Nacht.” January rannte zu ihrem Wagen, schloss die Türen und seufzte erleichtert bei dem Gedanken, dass sie ein Zuhause hatte und ein Auto, das sie dorthin brachte. Sie drehte den Zündschlüssel, und das Geräusch des startenden Motors hämmerte mit ihrem heftig klopfenden Herzen um die Wette. Im gleichen Moment, in dem sie die Scheibenwischer einschaltete, trat ein hagerer Mann mit schmutzigen weißen Hosen und einem knielangen Hemd vor ihr aus der Gasse. Seine Kleidung war klitschnass, genauso wie sein Haar, das ihm an Stirn und Hals klebte. Fast sein ganzes Gesicht wurde von einem dichten Bart verdeckt. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Als er grinste, schaltete sie die Scheinwerfer an und signalisierte ihm per Lichthupe, dass er aus dem Weg gehen sollte, was er auch tat, jedoch ohne die
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