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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg
Autoren: Carmen Rohrbach
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Abteil für mich allein. Mitten in der Nacht schreckte ich aus tiefem Schlaf auf, geweckt von der lauten Stimme eines Schaffners. Einige Waggons, auch der, in dem ich mich befand, waren abgehängt worden. Schlaftrunken zog ich meinen Rucksack aus dem Gepäcknetz herab, hastete aus dem Abteil, öffnete die Waggontür und sprang auf den Bahnsteig hinab. Der Schaffner wies mir die Richtung und es gelang mir gerade noch, auf den bereits fahrenden Zug zu springen. Nun drängelten sich viele Leute um die wenigen Sitzplätze. Müde traf ich am Morgen in Paris auf dem Gare de l'Est ein. Für die Weiterfahrt mußte ich zum Bahnhof d'Austerlitz wechseln. Ich war gezwungen, die Métro zu benutzen, doch hatte ich im Vertrauen darauf, daß ich in Frankreich nichts brauche, gar kein Geld getauscht. Schwarzfahren kam nicht in Frage, da sich die Sperren ohne Ticket nicht öffnen lassen. Die Gesichter der Menschen, wie wohl in allen großen Städten zu Arbeitsbeginn, schienen mir an diesem Morgen besonders grau und abweisend. Wahrscheinlich lag das aber mehr an meinem ziemlich desolaten Zustand nach der durchwachten, nächtlichen Bahnfahrt. Die Leute hasteten an mir vorbei. Wie könnte ich nur durch die Sperre kommen? Da plötzlich drückte mir ein Mann einen Fahrschein in die Hand. Ich konnte mich weder bedanken, noch hatte ich sein Gesicht sehen können, so schnell war er in der Menge wieder untergetaucht.
    Im Zug nach Bayonne hatte ich wieder ein Abteil ganz für mich allein. Ich holte den Schlaf nach und wachte erst wieder auf, als der Zug bereits durch Südfrankreich fuhr: Grüne Wiesen und grüne Hügel, gesprenkelt mit elfenbeinfarbenen Rindern, ab und zu ein steingraues Dorf.
    Als der Zug Bayonne erreichte, stand auf dem Nebengleis bereits der Anschlußzug nach St.-Jean-Pied-de-Port. Alle Abteile waren voller Menschen, irgendwo quetschte ich mich dazwischen. Mir fiel bald ein alter Mann auf. Er trug einen dunklen Anzug aus feinem Stoff, der aber an Armen und Knien schon etwas schäbig und abgewetzt war. Unter der Baskenmütze hingen dünne graue Haare hervor. Er hatte ein mageres Gesicht mit einer auffallend spitzen Nase. Ich wurde auf ihn aufmerksam, weil er unruhig von einer Abteilseite auf die andere hinüberwechselte, aufgeregt die Fenster herabkurbelte und sich weit hinausbeugte. Der Fahrtwind wirbelte ihm die spärlichen Haare ins Gesicht und mit der Hand hielt er die Baskenmütze fest. Ich verfolgte seinen Blick, sah bewaldete Hügel und grünbeweidete Hänge, einen kleinen sich schlängelnden Fluß, die Ufer mit Weiden bewachsen. Nichts Besonderes, eine ruhige, stille Landschaft. Doch gewiß sah der Mann etwas ganz anderes als ich. Immerfort wendete er den Kopf, hierhin und dorthin, suchte etwas zu entdecken, etwas wiederzufinden, vielleicht wie jemand, der nach langer Zeit in seine Heimat zurückkehrt. Ich versuchte seine Aufgeregtheit nachzuempfinden, auch wenn ich persönlich nicht so fühlen kann. Für mich gibt es keine Heimat, die mein Herz beim Gedanken an sie in Aufregung versetzen könnte. Vielleicht hatte ich zeit meines Lebens sehnsuchtsvoll in die Ferne geblickt, meine ganze Phantasie auf das Erreichen ferner Ziele fixiert, so daß für den heimatlich vertrauten Ort keine Gefühle mehr übrigblieben? Dennoch erinnere ich mich, daß auch ich einmal eine Heimat geliebt und mich dort geborgen und zu Hause gefühlt hatte. Der erste mir vertraute Ort war ein verwilderter Garten, mit großen Bäumen, wucherndem Buschwerk, hohem Gras, in dem ich mich verstecken konnte, und summenden Insekten, die sich manchmal in meinen Haaren verwirrten. Eine ganze Welt war dieser Garten für mich, in dem ich die meisten Tage meiner ersten fünf Jahre erlebte. Als ich viele Jahre später meine kindliche Glückswelt wiedersah, war sie bis zur Unkenntlichkeit verdorben. Die lebendige, summende und brummende Blumenwiese, die mir einmal über den Kopf wuchs, war zu einem kurzgeschorenen Rasen verunstaltet worden. Die sich vielfach verästelnden Büsche waren verschwunden, ebenso die Obstbäume, auf denen ich dem Himmel entgegengeklettert war. Statt dessen sah ich eine kümmerliche Tujahecke, so künstlich wie aus Plastik, und zu allem Schrecken noch eine Blautanne, ein Baum, der in einem Garten wie die verkörperte Unnatur wirkt. Meine erste kleine Heimat war zerstört worden, sie existierte nicht mehr. Ich kann an sie nur zurückdenken als an etwas Vergangenes, doch werde ich sie nie im Leben wiederfinden. Auch meine zweite Heimat
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