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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg
Autoren: Carmen Rohrbach
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Jüngern angelegt haben. Vorsorglich ordnete Bischof Theodomir zunächst einmal drei Fastentage an. Das war sehr geschickt, denn Nahrungsentzug verstärkt immer die Einbildungskraft. Danach zog er an der Spitze der zahlreich herbeigeströmten und neugierigen Gläubigen zum Ort des überirdischen Ereignisses. Die Landschaft darf man sich nicht als freies, leicht zugängliches Gelände vorstellen. Es gab dichte Eichenwälder und üppige Vegetation. Der Bischof ließ zielgewiß eine Schneise durch das verwachsene Unterholz schlagen. Bald fanden sie eine Grabkammer, ein mit Marmorplatten verkleidetes Mausoleum, wie es die Römer für wichtige Persönlichkeiten errichtet hatten. Keine Überlieferung sagt, welche Relikte im Sarkophag lagen. War es ein Skelett mit abgeschlagenem Kopf? Gab es Inschriften oder andere Hinweise, die auf den Apostel deuteten? Niemand weiß das bis heute. Vielleicht, weil alle Anwesenden von der zweifelsfreien Gewißheit gepackt waren, die Ruhestätte von Jakobus gefunden zu haben, suchten sie nicht nach Beweisen. War doch der Begräbnisplatz von himmlischem Licht und Engelsgesang angezeigt worden. Derart göttliche Zeichen wogen schwerer als irdische Beweise. Den kirchlichen Würdenträgern kam die Grabfindung sehr gelegen. Es war das Wunder, das lange erwartet, herbeigesehnt und dem vielleicht herbeigeholfen wurde. Denn der Islam bedrohte die Christenheit auf gefährliche Weise. Im Jahre 711 war es dem arabischen Heer gelungen, nach Spanien, das zu dieser Zeit von den Westgoten beherrscht wurde, einzudringen. Die Westgoten hatten auf ihrer langen Wanderung durch Europa das Christentum angenommen und zweihundert Jahre in Spanien geherrscht. Dann stritten sich zwei Sippen um die Königswürde. Diese Uneinigkeit ermöglichte den Arabern einen erfolgreichen Angriff. In kaum zehn Jahren besetzten sie das ganze Land. Nur im äußersten Norden, am Rand der Pyrenäen und im sich anschließenden kantabrischen Gebirge, hielten kleine Bergfürstentümer durch zähe Verteidigungskriege und listige Verhandlungen der Übermacht der Araber stand. Es war aber zu befürchten, daß die Araber bald so stark sein würden, über diese letzten Widerstandsnester hinwegzufegen, die Pyrenäen zu übersteigen und... Nein, soweit durfte es gar nicht erst kommen! Deshalb mußte der christliche Glaube wieder gestärkt und das Selbstbewußtsein der Gläubigen aufgerichtet werden. Die Menschen sollten nicht mehr in Angst vor dem krummsäbelschwingen- den Halbmond zittern, sondern erkennen: Die »islamischen Teufel« sind besiegbar. Gab es Wirksameres, die Menschen aufzurichten, ihnen Mut zu machen und an ihrem Glauben festhalten zu lassen, als ein Zeichen von oben, von Gott selbst? Im rechten Augenblick hatte er ihnen das Grab des Apostels offenbart. Vom Glauben gestärkt, gewannen die Christen eine Schlacht nach der anderen.

    Das Land, in dem der Heilige höchstpersönlich missioniert hatte und begraben lag, durfte den Ungläubigen nicht überlassen werden. Und so hatte Jakob noch Jahrhunderte nach seinem Tod die Geschicke des Abendlandes entscheidend beeinflußt. Mir scheint möglich, daß ohne ihn die Geschichte in Europa ganz anders verlaufen wäre. So gesehen ist es egal, wessen Knochen im Marmormausoleum gelegen haben, ob es wirklich seine eigenen waren oder die eines uns unbekannten Westgoten oder Römers. Ausschlaggebend war, was die Menschen glaubten, denn im Glauben entwickeln Menschen ungeahnte Kräfte.
    Nun muß ich endlich weitergehen, noch ein langer Weg liegt vor mir. Ich packe meine Aufzeichnungen zusammen und verstaue sie im Rucksack. Während des Laufens kann ich ja weiter nachdenken.
    Zunächst läßt mich ein steiler Bergpfad nach Luft ringen. Laubbäume, meist Buchen mit weit ausladenden Kronen, bilden ein grünes Gewölbe. Es geht immer höher. Wind frischt auf. Ich trete hinaus auf eine baumlose, karstige Almlandschaft, die zugleich alle meine Sinne und Gedanken in Anspruch nimmt. Blaugrau, ineinander verschlungen, schwingen die weiterführenden Höhenzüge in die Ferne. Ich hatte mir die Pyrenäen anders vorgestellt - mit Schluchten, Steilwänden und Abgründen, schroffer, gewaltiger und ungezähmter. Statt dessen sehe ich gerundete Bergketten, wenngleich von enormer Ausdehnung. Der Wind bläst kräftig und kalt. Am Himmel, gehäuft und dann wieder wild zerrissen, dahineilende Wolken, die die Sonne einkreisen, sich in Formationen entschlossen vor sie schieben und dann wieder einen Durchschlupf
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