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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Chen keck behauptete, der Baum sei über tausend Jahre alt. Sogar der wilde Khublai Khan sollte vor dem Baum gestanden und – er war eben ein ungebildeter Wilder – gegen den Stamm gepinkelt haben. Von da an sei der Baum so knorrig gewachsen.
    Eine solche Geschichte war immer eine Spende wert; der Jadegipfel-Tempel litt keine Not. Ein neuer goldener Buddha in der Gebetshalle zeigte es jedem Betenden.
    Ling und Junpei blieben auf der Schwelle des Innengartens stehen und warteten ehrfürchtig, daß jemand kam und sie ins Innere einlud. Ling bemerkte neben dem Eingang zur Küche die große, etwas verbeulte Thermoskanne, die Deckeltassen und das Rosenholzkästchen mit dem grünen Tee. War es ein Heiltee, gewürzt mit anderen Kräutern, die nur Deng Jintao kannte?
    Ling trat einen Schritt näher, griff nach hinten, zog Junpei neben sich und merkte, daß sie zitterte. Die jetzige Stunde mußte das größte Erlebnis ihres Lebens sein. Zuerst hatte sie gedacht, es sei das Gebären eines Kindes, aber nach sieben Niederkünften war von dem Mysterium nur ein verfluchter Schmerz geblieben.
    Ling deutete Junpei an, ihr Bündel mit den Geschenken vom Rücken zu nehmen, und trat dann voll Mut näher an den tausendjährigen Magnolienbaum heran. Unter den weit ausladenden Ästen, die wie ein dichtes Dach wirkten, sah er eine aus Holz kunstvoll geschnitzte, mit Goldfarbe lackierte und mit Darstellungen kämpfender Drachen verzierte, halbhohe Säule stehen, auf deren Plattform eine handhohe Nachbildung eines Pavillons stand; er war aus grüner und hellbrauner Jade geschnitzt, und auf dem Dachfirst thronte ein kleiner goldener Drache. Sein Maul war aufgerissen, aber nicht, um verderbendes Feuer zu speien; es sah eher so aus, als lache der Drache.
    Ein lachender Drache … Ling starrte ihn ergriffen und wie gelähmt an. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Lachen ist Freundschaft, und ein Drache, der lacht, ist ein Freund – konnte es so etwas geben? Hatte den großen Weisen Deng Jintao ein Drache begleitet, der nicht die Menschen verschlang? Bekam er von ihm die Kraft zu heilen, wo alle anderen sagten: ›Such dir die Stelle für dein Grab‹? Stand Ling einem Hauch von Buddhas Allmacht gegenüber?
    Er schrak fürchterlich zusammen, und Junpei hinter ihm fiel sogar auf ihre Knie, als von der Wohnungstür, die zum Versammlungsraum führte, eine Stimme erklang. Ein uralter Mönch in seinem blaßroten Gewand, eine Gebetsmühle in der Hand schwenkend, war in den Hof getreten und hob grüßend die andere, freie Hand. Seine spitze Lamamütze aus Yakwolle und bestickt mit golddurchwirkten Bändern hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Was man wirklich sah, waren eigentlich nur seine Augen, braunschwarze Augen, die jung und ewig schienen wie die Schneeberge. Deng Jintao, der Unsterbliche?
    Ling fiel auf die Knie, Schwindel ergriff ihn, und alle Müdigkeit, aller innere Schmerz verwehten wie Rauch, den ein Windstoß wegbläst. Noch gebannter war er, als nach Deng Jintao eine ebenso alte, gebückt gehende Frau in einem wallenden gelben Gewand erschien, die Hände in bunten Strickhandschuhen verborgen, vielleicht, weil sie nur noch aus blanken Knochen ohne Fleisch bestanden. Eine Tote, die durch himmlische Gnade weiterlebte? Ling entschloß sich, die Augen zu schließen und in die Dunkelheit zu fliehen.
    »Was sind deine Beschwerden?« hörte er Deng Jintaos brüchige Stimme. »Hast du Angst vor dem Tod? In deinem Alter?«
    »Ja, o weiser Herr.«
    »Wo kommst du her?«
    »Aus Changli, Herr.«
    »Changli …« Der Uralte blickte sinnend vor sich hin. »Ich kenne Changli. Ich habe eine Nacht dort geschlafen.«
    »Wann, o Meister?«
    »Frag nicht nach Zeiten. Zwischen Reisstrohbündeln habe ich geschlafen, warm in einer kalten Nacht.«
    »Das muß schon lange her sein, Meister.«
    »Ich hatte es schon vergessen, nur der Name Changli erweckte die Erinnerung.« Deng Jintao blickte über Lings gesenkten Kopf ins Weite, als umgäben ihn nicht die Mauern der Häuser. Sind zwei Jahre lang? dachte er. Es kommt darauf an, wie man es sieht. Schon ein nicht genutzter Tag ist ein Schritt näher zum Ewigen, etwas nicht zurückholbares Verschenktes. Drum sieh jeden Tag wie einen Tropfen deines Blutes an, das deinen Körper verläßt. Laß den Tropfen nicht im Sand versickern. »Wo hast du Schmerzen?« fragte er.
    Der neue Klang der Stimme ließ Ling zusammenfahren. »Überall, o Meister.«
    »Hast du heute schon gebadet?«
    »In der Frühe. Wie jeden Tag.
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