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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes
Autoren: Carmine Abate
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auf die feuchten Haare. »Ich will nicht, dass ihr ihn nach mir benennt. Es ist richtiger, ihm die Namen meiner seligen Söhne Michele und Angelo zu geben. So leben auch sie weiter. Ich habe viel darüber nachgedacht, wenn es ein Junge werden sollte. Wir nennen ihn Michelangelo.« Dann brach er in Freudentränen aus, konnte nicht mehr aufhören, er weinte, ohne sich dessen zu schämen, und sein Sohn, bewegt und glücklich, umarmte ihn,wie er es noch nie getan hatte, wie er es nie wieder tun würde, während das Neugeborene weiter lauthals schrie zum Zeichen, dass es sanizzo war, gesund und hungrig.
    Den Eltern gefiel der Name des Sohnes sofort, auch wenn sie ihn nicht selbst ausgesucht hatten. »Es ist ein berühmter Name, er wird ihm Glück bringen«, sagte Arturo. Lina lächelte zufrieden, knöpfte sich die Bluse auf, und das Kind fand mit geschlossenen Augen ihre Brust.
    »Wie gescheit er ist, unser Michelangelo!«, rief der Nonno stolz aus. »Er weiß schon, was wichtig ist auf dieser Welt.«
    Ein aromatischer Wind hatte sich erhoben, zauste die Baumkronen und drehte seine sanften Pirouetten um die Familie Arcuri. Das Kind blähte und schloss die kleinen Nasenlöcher, während es mit langsamen, gleichmäßigen Zügen trank. Der Großvater bemerkte es und wies die anderen beiden darauf hin: »Seht ihn euch an, er schnobert wie ein junger Welpe.«
    »Ja, stimmt«, sagte Arturo zufrieden. »Die feine Nase hat er ja wohl von mir. Und er riecht schon jetzt den Duft des Hügels.«

Duft
    Es war eine Mischung aus Ginster und blühendem Holunder, aus Oregano und Süßholz, aus Zistrose, Minze und wilder Malve, die die Meeresbrise in Kreisen über den Hügel blies wie eine unsichtbare Aureole. »Je älter ich werde, umso mehr habe ich ihn in der Nase, diesen Duft. Tag und Nacht, zu jeder Jahreszeit. Was bedeutet, dass ich bald verrückt werde oder ebenfalls ermordet«, hat mein Vater mir anvertraut, als wir uns nach acht Monaten auf dem Rossarco wiedersahen.
    Ich war über Ostern alleine heruntergekommen, Simona ließ sich wie schon des Öfteren entschuldigen, seitdem sie in Spillace einmal die kältesten und verregnetsten Ostertage ihres Lebens verbracht hatte. »Das war eine Ausnahme damals«, versuchte ich sie zu überzeugen. »Du weißt nicht, was du verpasst. Der Frühling in Kalabrien ist ein Paradies aus Düften und Farben, von denen du im Trentin nur träumen kannst.« Sie lächelte ironisch: »Fahr du zu deinem Papa, fahr nur. Und sag ihm, dass wir uns im Sommer sehen, so Gott will.«
    Als Erstes zeigte mein Vater mir die neue Casella. Er hatte sie ein wenig umgebaut, hatte aus dem Raum ein Schlafzimmer mit Bad und einer Kochecke mit Holzofen geschaffen, und war Ende September dort eingezogen. Seitlich hatte er einen Schuppen angebaut, wo er die Vorräte und das Arbeitsgerät lagerte, und einen kleinen Steinofen für Brot. Was eraus seinem vorigen Leben brauchte, hatte er in seinem Panda mit Allradantrieb herauftransportiert: zwei Koffer mit Kleidern und Wäsche, einen Karton Bücher, ein Schwarzweißfoto von Nonno Arturo, eine Großaufnahme von Mama als junge Frau in Turin und dann noch eine Hülle mit dem alten Jagdgewehr, eine Packung Patronen und die Gitarre, die seinem Vater gehört hatte. Kurz, auf den ersten Blick kam es mir vor wie ein Leben in der Wildnis, das ich mir nicht erklären konnte, ohne Strom und Fernseher, ohne Waschmaschine und Kühlschrank. Ich hörte schon Simonas Sarkasmus: »Was für ein tolles Ende nimmt dein großes Vorbild! Offensichtlich ist er voller Ängste und versucht das hinter der Maske des starken Mannes und einem einsamen Leben inmitten einzigartiger Gerüche zu verbergen, die nur er wahrnimmt. Und du läufst ihm nach wie ein junger Hund!«
    Als ich ihn nach dem Grund für diesen unbegreiflichen Rückzug in die Einsamkeit fragte, erwiderte mein Vater, dass der Rossarco ihm gefalle, mehr noch, ihn betöre, darum, andere Gründe gebe es nicht. Und dann fügte er auf meinen erstaunten Blick hinzu: »Ich habe vor nichts und niemandem Angst.« Eine Antwort, die an Simona gerichtet zu sein schien und die mich eher alarmierte als beruhigte. Er begriff das und sagte, um das Thema zu beenden: »In meinem Alter brauche ich nicht mehr viel, und das wenige finde ich hier oben.«
    Doch seine ostentativ zur Schau gestellte Sicherheit überzeugte mich nicht. Ohne es zu wollen, fühlte ich mich von Mamas Foto angezogen: Sie war eine schöne Frau gewesen, groß und entschlossen für ihre Zeit;
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