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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes
Autoren: Carmine Abate
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ihm in Rinnsalen auf das Gesicht legte wie eine Myriade salziger Tränen. Die Grube lag seit drei Tagen ausgehoben bereit, bedeckt mit einem Netz für die Olivenernte.
    Er sah Marisa ein letztes Mal an, ihr Gesicht war heiter, in dem matten Lichtschein strahlte es geradezu. Er bedeckte es mit dem Leinenlaken, dann füllte er die Grube mit der schwarzen Erde des Rossarco, der besten. Schließlich breitete er das Netz wieder darüber und kehrte nach Hause zurück, in sein leeres Bett, mit reinem Gewissen.
    Ich umarmte meinen Vater. Anfangs schien er überrascht, hielt die Arme steif an den Leib gepresst, die Fäuste geschlossen. Dann entspannte er sich und drückte mich mit aller Kraft an sich. »Du hättest es doch auch getan, oder?«, fragte er mit vom Weinen gebrochener Stimme.
    »Ja, Papa, ich hätte es auch getan. Mama ist glücklich hier oben, mit dem Meer vor sich und im Duft des Hügels.«
    Jetzt schluchzte mein Vater lauter, wurde wieder zum Kind, er umarmte seinen Sohn und klammerte sich an seinen Vater, der ihn sicher genauso verstanden hätte, wie ich ihn verstand.
    Das Tröpfeln des Regens auf den Olivenbaumblättern brachte uns in die Wirklichkeit zurück. Er löste sich von mir und sagte: »Du solltest lieber mit meinem Wagen nach Spillace zurückfahren, ehe es wieder zu schütten anfängt. Da ruhst du dich richtig aus, das kannst du gebrauchen: Du bist blass und müde. Wir sehen uns morgen früh.«
    Ich gehorchte ihm gern, ich war so müde, dass ich, wenn ich nur ein bisschen länger geblieben wäre, in seinen Armen eingeschlafen wäre wie damals als Kind.
    Um mich auf der kurzen Strecke zum Dorf wach zu halten, versuchte ich mir vorzustellen, was am nächsten Tag passieren würde. Es gelang mir beim besten Willen nicht, ich sah nur Nebel am Ende dieses grauen Tages, ein feuchtes und heimtückisches Grau, das weiteren Regen versprach.

Epilog
    Es war das erste Mal, dass ich mitten im Winter nach Spillace kam. Ich wunderte mich, dass es im Dorf nicht regnete. Die Straßen waren trocken und menschenleer, die Fenster verriegelt, die Bars geschlossen. Es sah aus wie ein Geisterdorf.
    Als ich das Haus betrat, schlug mir der Muff verlassener Räume entgegen. Man merkte, dass hier seit dem Sommer niemand mehr gelüftet hatte. Ich machte Licht in meinem Zimmer, zur Freude der Nachtfalter, die mir ohne die Erzählung meines Vaters vielleicht gar nicht aufgefallen wären.
    Staunend öffneten sich eine Handvoll vertrauter Augen: die drei Arcuri-Brüder, junge Infanteristen im Ersten Weltkrieg; Nonno Arturo beim Gitarrenspiel, in seine Träume versunken; Mammalì und Mammasofì lächelnd mit zerzausten Haaren vor der Casella, im Gegenlicht das Meer, die Süßkleeblüten vom Wind gebeugt; die finstere und surreale Miene von Urgroßvater Alberto auf Ninabellas Bild; meine Eltern, die mich an Ostern auf der Schaukel anschubsen, sie lächeln, stolz auf ihr Kind, das über ihrer Liebe fliegt; eine Großaufnahme von Simona am Strand von Punta Alice, die mir aus den Augenwinkeln einen verliebten Blick zuwirft, während sie in einem schmalen Novalis-Band liest; Ninabellas Charme, umflort von ihrer ewigen Ernüchterung, am Tag ihrer Hochzeit mit David, der seinem Bruder William so ähnlich sah und sie um die Taille fest umschlungen hielt, damitsie nicht weglief. Alle, die Lebenden und die Toten, verfolgten meine Bewegungen neugierig von ihrer Wand aus, wo Mammalì sie im Sommer ihres Todes aufgehängt hatte, damit ich sie nicht vergaß. Fehlten nur noch Paolo Orsi, Umberto Zanotti-Bianco und die Albino-Schwalbe, dann hätte ich sie alle vor Augen gehabt, die Protagonisten dieser Geschichte.
    Nach einem kleinen Slalom um die herabhängenden Spinnweben warf ich mich auf das Bett meiner Kindheit. Bevor ich einschlief, rief ich Simona an, um ihr und unserem Kind eine gute Nacht zu wünschen. Sie verstand mich, obwohl ich sie nicht ausdrücklich um Verzeihung bat. Mit wiedergefundener Wärme verabschiedeten wir uns.
    Als mein Handy klingelte, war ich kurz verwirrt, ich glaubte zu Hause im Bett neben Simona zu liegen. Auf dem Display leuchtete das Wort PAPA. Als ich ranging, war meine Stimme von bitterer Spucke belegt. Ohne sich mit Entschuldigungen oder Begrüßungen aufzuhalten, rief mein Vater keuchend: »Geh und hol die Einwanderer aus ihren Baracken, sonst werden sie vom Erdrutsch lebendig begraben.« Ich begriff nicht, verschlafen wie ich war. »Ich kann zu Fuß nicht runter«, erklärte er, »und selbst wenn ich das Auto
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