Der Hof (German Edition)
fast berühren.
«Wenn es ein Unfall war, wieso bist du nicht zur Polizei gegangen?»
«Ich kann nicht ins Gefängnis gehen.» Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, macht sie auf mich einen regelrecht verängstigten Eindruck. «Es wäre für Michel schon schwer genug, aber ich kann Gretchen unmöglich alleine hier zurücklassen. Nicht mit meinem Vater.»
«Wieso nicht? Ich weiß, sie ist deine Schwester, aber …»
«Gretchen ist nicht meine Schwester. Sie ist meine Tochter.»
Selbst jetzt hoffe ich noch, ich habe irgendetwas falsch verstanden. Aber was gibt es da falsch zu verstehen?
Arnaud.
Die faulige Luft in der Hütte scheint zu gefrieren.
«Himmel, Mathilde …»
«Du hast jetzt schon so viel gehört, dann kannst du auch den Rest erfahren.» Neben mir ist eine sanfte Bewegung, weil Mathilde sich die Wangen abwischt. «Ich war dreizehn. Mein Vater hat meiner Mutter erzählt, das Baby hätte mir ein Junge aus der Stadt gemacht. Er sagte, sie müssten so tun, als wäre es ihr eigenes, um meinen Ruf zu schützen. Dann hat er in der Schule behauptet, ich wäre krank, und behielt mich bis zu Gretchens Geburt daheim. Danach war es wirklich so, als wäre sie ihre Tochter.»
«Hättest du denn nicht
irgendwem
davon erzählen können?», frage ich entsetzt.
«Wem denn? Meine Mutter muss es gewusst haben, aber sie war nie stark genug, sich gegen ihn aufzulehnen. Und wem hätte ich es nach ihrem Tod schon erzählen können? Georges?»
«Weiß Gretchen es?»
«Nein!» Ihre heftige Antwort überrascht mich. «Das darf sie nicht, niemals. Ich lasse nicht zu, dass er ihr Leben zerstört, wie er meins zerstört hat. Ich habe ihm gesagt, falls er Hand an sie legt, bringe ich ihn um. Als er zum ersten und einzigen Mal einen Versuch machte, habe ich ihn mit so viel Kraft die Treppe runtergestoßen, dass er einen Monat im Bett liegen musste.»
Sie erzählt das mit kalter Befriedigung. Sie klingt jetzt anders als die Frau, die ich kenne. Oder von der ich geglaubt habe, sie zu kennen.
«Was ist mit Michel? Ist er …?»
«Er ist Louis’ Sohn. Aber mein Vater betrachtet ihn als seinen eigenen Sohn. Er hat sich immer einen Sohn gewünscht. Einen Erben, dem er den Hof hinterlassen kann. Töchter sind nicht dasselbe, nicht mal Gretchen. Ich glaube, das ist der Grund, warum …»
«Warum was?», frage ich, als sie verstummt.
Ich höre ihr Seufzen, als müsse sie den Atem von weit weg holen. «Nachdem meine Mutter starb, gab es ein zweites Baby. Ein kleines Mädchen. Mein Vater hat sie mir nie gezeigt. Er hat mir erzählt, sie wäre tot geboren, aber ich … Na ja, ich glaubte damals, sie schreien gehört zu haben.»
Dieser Hof ist wie eine Sammlung makabrer Matrjoschkapuppen, denke ich wie betäubt. Jedes Mal, wenn ich überzeugt bin, das letzte Geheimnis aufgedeckt zu haben, finde ich darin ein weiteres, das noch hässlicher ist. «Um Gottes willen, wie kannst du hierbleiben? Warum gehst du nicht weg?»
«Das ist nicht so einfach.»
«Doch, das ist es! Du packst deine Sachen und verschwindest! Er kann dich wohl kaum aufhalten!»
«Ich könnte nicht ohne Gretchen gehen.»
«Dann nimm sie mit!»
«Hast du mir denn gar nicht zugehört?», faucht sie, und erneut kann ich einen Blick auf die Gefühle werfen, die sie hinter der Fassade verbirgt. «Was glaubst du denn, was ich mit Louis vorhatte? Sie wird ihren Vater nicht im Stich lassen. Zumindest nicht mit mir zusammen.»
Jetzt stehen wir also wieder ganz am Anfang. Ich wende mich ab und schaue durch den Spalt im Mörtel, um zu checken, was draußen los ist. Zerfetzte Wolken ziehen über den Mond hinweg. Der kleine Ausschnitt der Lichtung, den ich erkennen kann, sieht ruhig und verlassen aus, aber ringsum formen die Bäume eine Wand aus undurchdringlicher Dunkelheit.
«Jetzt verstehst du sicher, warum ich Gretchen von hier fortbringen muss», sagt Mathilde hinter mir. «Es ist egal, wohin sie geht oder wie. Alles ist besser als das hier. Sie wird dich begleiten.»
Ich bin für die Dunkelheit in der Hütte dankbar, weil ich ihr so nicht ins Gesicht sehen muss. Dass sie denkt, nach allem, was ich gehört habe, würde ich ihre Tochter mitnehmen, zeigt nur, wie verzweifelt sie ist. Vielleicht hofft sie aber auch einfach, ich könnte mich für sie verantwortlich fühlen, nachdem sie sich mir anvertraut hat. Es macht im Grunde keinen Unterschied.
«Ich kann nicht. Tut mir leid.»
Ich höre hinter mir etwas und drehe mich um. Der dünne Lichtstreif rings um die Tür
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