Der Hof (German Edition)
irgendwas, um den Fuß zu verbinden?»
«Nein.»
«Keine Sorge. Ich helfe dir in den Schuh.»
Ihre Haare streifen meinen Arm, während sie den Stiefel über meinen geschwollenen Fuß schiebt. «Warum möchtest du unbedingt, dass Gretchen mit mir fortgeht?», frage ich und versuche, den Schmerz zu ignorieren. «Wegen dem, was im See liegt?»
Ich bemerke ihr kurzes Zögern. «Das ist ein Grund.»
Sie weiß also darüber Bescheid. Ich habe das Gefühl, dass alles total unwirklich ist. Dieses Gespräch zum Beispiel. Ich wünschte, ich könnte sie in der Dunkelheit sehen, aber für mich ist sie nur ein unförmiger Schatten.
«Was ist mit Louis passiert, Mathilde?»
Sie versucht weiter, den Schuh über meinen Fuß zu schieben. Kurz denke ich, sie wird mir keine Antwort geben. Als sie schließlich das Wort ergreift, klingt ihre Stimme ruhig und resigniert. «Ich habe von meiner Schwangerschaft erfahren, als er in Lyon war. Bei seiner Rückkehr wollte ich ihm davon erzählen. Ich hatte ein bisschen Geld, weshalb ich hoffte, ihn überreden zu können, uns irgendwohin mitzunehmen. Auch Gretchen. Sie … mochte Louis. Aber ich hätte wissen müssen, dass sie meinem Vater davon erzählen würde. Es kam zu einer Szene. Louis und er haben miteinander gekämpft, und …»
Ich verziehe das Gesicht, weil der Stiefel jetzt plötzlich doch über den Fuß gleitet. «Dein Vater hat den Pick-up also in den See gefahren?»
«Er wollte alles loswerden, was irgendwie auf seine Anwesenheit auf dem Hof hindeutete. Louis kam aus Lyon direkt zum Hof. Es war Abend, weshalb sonst niemand von seiner Rückkehr wusste. Danach … Nun, wir haben einfach so getan, als wäre nichts passiert.»
Ich spüre, wie ihre Hände meinen Schuh loslassen, und habe den Eindruck, sie ist in Gedanken schon wieder ganz woanders. Ich greife nach unten und binde die Schnürsenkel zu, während sie aufsteht.
«Was ist mit dem Leichnam?» Die Fahrerkabine vom Pick-up ist leer gewesen, aber jetzt kann ich nur noch an das Stück bröckelnden Beton in der Scheune denken.
«Mein Vater hat ihn hierhergebracht.»
«Hierher?»
«Für die Sanglochons.»
Es dauert einen Moment, ehe ich die Bedeutung ihrer Worte begreife.
Himmel.
Entsetzt schaue ich mich in der kleinen Hütte um und erinnere mich in der Dunkelheit schaudernd an die betäubte Sau, die vom Boden hochgezogen wurde, und an das Geräusch, als das Blut in die Wanne rauschte. Etwas, das Arnaud mal zu mir gesagt hat, bekommt für mich eine völlig neue Bedeutung.
Schweine fressen alles.
«Wie viel weiß Gretchen über das alles?», frage ich.
«Ich weiß nicht.» Mathilde klingt erschöpft. «Sie war danach verstört und hysterisch, und seitdem hat sie kein Wort mehr darüber verloren. Gretchen konnte schon immer all die Dinge ausblenden, über die sie nicht nachdenken will. Das war schon so, als sie noch ein kleines Mädchen war. Als wäre das alles gar nicht passiert.»
Das habe ich selbst schon am eigenen Leib erfahren. Aber die Erinnerung an Gretchens merkwürdigen Gedächtnisverlust wird durch eine viel schlimmere Erkenntnis überlagert. Ich bin bisher nämlich davon ausgegangen, Arnaud habe Louis umgebracht.
Vielleicht war er es gar nicht.
Mein Fuß schmerzt, als ich aufstehe, obwohl es nicht so weh tut, dass ich nicht schnell laufen könnte, falls es sein muss. Ich spähe durch den Spalt in der Außenmauer. Was ich von der Lichtung im zerfetzten Mondlicht sehen kann, ist leer.
«Dein Vater hat Louis nicht umgebracht, stimmt’s?», frage ich, ohne mich umzudrehen.
Ich spüre ihr kurzes Zögern. «Nein.»
«Gretchen ist krank, Mathilde. Sie braucht Hilfe.»
«Krank?»
«Du kannst sie nicht ewig beschützen. Selbst wenn sie Louis nicht umbringen wollte, wird sie früher oder später jemand anderem weh tun. Oder sich selbst.»
«Nein, da hast du mich falsch verstanden», sagt sie, als müsste sie einem Kind etwas erklären. «Gretchen hat Louis nicht umgebracht. Das war ich.»
Etwas Kaltes breitet sich in meinem Magen aus. «Das glaube ich dir nicht.»
«Louis hat meinen Vater geschlagen. Ihm weh getan.» Mit flacher, emotionsloser Stimme, als wäre jegliches Gefühl aus ihr gewichen, berichtet Mathilde. «Als Gretchen versucht hat, ihn aufzuhalten, hat er sie geschlagen. Mit Wucht mitten ins Gesicht. Also habe ich einen Spaten genommen …»
Der Knick in Gretchens Nase, denke ich betäubt. Ich drehe mich um und blicke sie in der Dunkelheit an. Sie steht so dicht vor mir, dass wir uns
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