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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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Rainald.
„Aber Papa, die Kapelle hat so ausgesehen, als wäre dort seit Jahren niemand mehr hingekommen.“
„Unsinn“, sagte Rainald, sprach jedoch nicht weiter. Er hatte soeben bemerkt, dass er in den letzten Augenblicken mehr mit seinem Sohn geredet hatte als in den vergangenen paar Monaten.
„Wie weit ist es bis zur Stadt?“, fragte die Schwester. „Ich war auf dem Weg dorthin.“
„Wir gehen nicht in die Stadt.“
Rainald spürte den überraschten Blick Johannes’. Er hatte seinen Kindern nicht verraten, wohin er mit ihnen gewollt hatte. Er hätte sich denken können, dass Johannes annehmen würde, Trier wäre ihr Ziel. Der Junge dachte stets an das Naheliegende. Zum Beispiel daran, sich zu verstecken, anstatt zu kämpfen.
„Wie du meinst“, sagte die Schwester.
„Papa … die Stadt ist doch in einem halben Tagesmarsch zu erreichen! Und in ein paar Stunden ist es dunkel.“
„Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist“, sagte Blanka.
„Unser Ziel ist die Didrichsburg“, sagte Rainald.
„Aber das ist doch viel weiter als bis zur Stadt! Wir müssen über den Fluss und …“
„Hermann ist mein Verbündeter, und wir werden die nächsten Wochen bei ihm verbringen.“ Und danach ein neues Leben beginnen, fügte Rainald in Gedanken hinzu. Wenn es das Schicksal will. Das Schicksal jedoch schien es nicht zu wollen.
„Das schaffen wir nie im Leben. Die Stadt ist nur …“
„WIR GEHEN NICHT IN DIE STADT!!“, brüllte Rainald. „Wenn wir die Nacht im Wald verbringen müssen, NA UND? Fürchtest du dich vor den Schneeflocken, du FEIGLING!?“
Rainald hörte das Echo seines Geschreis im Wald widerhallen und ersterben. Blanka begann zu weinen. Johannes versuchte zu verbergen, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Rainald schluckte.
„Was gibt es in der Stadt, vor dem du dich fürchtest?“, fragte die Schwester in die Stille hinein.
„Wir gehen zur Didrichsburg“, sagte Rainald. „Hermann hat uns eingeladen, und wir gehen zu ihm. Er ist mein Verbündeter.“
„Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist!“, rief Blanka. Ihre Stimme war nun schrill vor Panik.
„Sie fürchtet sich, wenn sie nichts sehen kann“, erklärte Johannes.
„Wald und Dunkelheit versetzen uns alle in Sorge“, sagte die Schwester. „Daran ist nichts Peinliches.“
„Sie ist erst so, seit …“
„ Du weißt natürlich genau, warum sie so ist“, schnappte Rainald.
Johannes’ Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als hätte ihn jemand geschlagen. Rainald hätte sich am liebsten selbst geschlagen. Die Wut in ihm kochte so unbändig hoch, dass seine Fäuste juckten. Immer wenn er das völlig verzweifelte Gesicht seines Sohnes nach einer derartigen Bemerkung sah – sowie in jeder Sekunde, in der er von seinen Kindern getrennt war, und sei es nur durch eine Tür – richtete sich sein Zorn gegen ihn selbst, brüllte er sich in Gedanken an, dass er ein Monstrum war, dass das, was ihm geschehen war, Gottes Vergeltung war für sein Verhalten. Dann erinnerte er sich, dass die Vergeltung zuerst gekommen war und dann erst Rainalds Verwandlung in etwas, das er am liebsten aus seinem eigenen Saal geprügelt hätte. Und dann stand er seinen Kindern wieder gegenüber, Johannes sagte irgendetwas in seiner nüchternen Art, und die Wut drehte sich wie eine Wetterfahne und richtete sich auf den Jungen aus.
„Wo hast du deine Pferde?“, fragte die Klosterschwester.
„Caesar ist jetzt bei …“, begann Blanka.
„Weg“, unterbrach Rainald.
„Ein Ritter, der seine Pferde verliert?“ Rainald hätte geschworen, dass ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht gehuscht war, doch in Wahrheit war es unbeweglich geblieben. Er starrte sie an. Vor diesem Blick hatten Turniergegner die Augen gesenkt. Die Schwester blinzelte nicht einmal. Auch Sophia hatte er nicht zum Blinzeln gebracht, wenn er sie niederzustarren versucht hatte.
Ein langgezogener Missklang stieg plötzlich an und schnitt durch die Stille. Blanka wimmerte. Die Blicke der Klosterschwester ließen Rainalds Augen nicht los. Der Missklang verstummte zögernd, das Heulen einer verlorenen Seele. Einen Herzschlag später kam aus einer anderen Richtung die Antwort.
„Wölfe?“, fragte die Schwester. Sie schien bleicher geworden zu sein. Rainald nickte.
„Wir sollten den Wald verlassen, bevor sie auf uns aufmerksam werden.“
Rainald schüttelte langsam den Kopf.
„Warum nicht?“
„Weil wir bereits gejagt werden.“

***

„Das Rudel ist riesig“, sagte Rainald.
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