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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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hätte fliegen können, hätte sie unmöglich bei mir und den Kindern sein und dann vor uns nach hier zurückkehren können, um …“ Er brach hilflos ab.
„Wovon spricht dieser Mann?“, fragte die Oberin misstrauisch und rückte einen Schritt von Rainald ab.
„Ja“, sagte Dielsdorfer.
Rainald beugte sich über die Leiche von Schwester Venia. Die Stimme, die vor dem Stadttor in sein Ohr geflüstert hatte, war ihre gewesen. Als er sie gehört hatte, hatte er gewusst, dass sie tot war. Er hatte angenommen, dass die Wölfe sie erwischt hatten. Tatsächlich …
„Ich habe vertraut“, flüsterte er. „Ich habe dem Leben vertraut, Schwester Venia. Diesmal hat es mich nicht im Stich gelassen.“
Bevor jemand ihn zurückhalten konnte, zupfte er an Schwester Venias Gebende, rückte es zurecht und strich mit einer Hand sanft über das kalte, blasse, faltige Gesicht.
„Es ist Euch vergeben“, sagte er. Dann ließ er den Tränen freien Lauf und schämte sich nicht dafür.

***

Ein Wolf hatte es bis zum Galgen geschafft. Dort war er liegen geblieben und verendet. Die Bauern, die am nächsten Tag um ihn herumstanden und ihn musterten, waren schweigsam. Schließlich fasste einer den Mut, an das stille Fellbündel heranzutreten und es herumzudrehen. Die Bauern murmelten und bekreuzigten sich. Der Wolf war kein Wolf, sondern ein großer, zottiger Schäferhund. Seine Augen waren halb geöffnet, seine Kiefer zusammengepresst, als habe er seinen letzten Atemzug voller Hass und Neid getan. Die Bauern bekreuzigten sich erneut.
Plötzlich flog etwas gegen den Kopf des toten Hundes und zerplatzte. Ein Schneeball. Die Erwachsenen fuhren herum. Ein kleiner Junge stand in ihrer Mitte mit einem weiteren Schneeball. Sein Grinsen erlosch, als er die Gesichter um sich herum sah. Er ließ den Schneeball fallen. Die Bauern schüttelten die Köpfe und stapften weiter.
Der Junge blieb zurück. Er starrte den toten Hund an. Mit den Resten des Schneeballs in seinem Fell wirkten seine Kiefer plötzlich nur noch halb so bedrohlich. Der Junge trat zögernd heran und stupste den Leichnam mit dem Fuß an. Plötzlich seufzte er, streckte eine Hand aus und streichelte den mächtigen Kopf, als hätte er sich daran erinnert, was er zu Hause tat, wenn der Hofhund ihn unvermittelt anknurrte.
Die Kiefer klappten auf, und der Kopf des toten Anführers der Wölfe sank zur Seite. Er sah jetzt viel kleiner aus, ein nasses Bündel schwarzen Fells, in dem sich erste graue Streifen zeigten und viele Narben von Kämpfen, denen sich eine Kreatur gestellt hatte, die das Vertrauen in das Leben verloren hatte.
Der Junge zeichnete mit dem Daumen das Kreuzzeichen auf die Stirn des Hundes, mit sanften, fast zärtlichen Bewegungen. Dann drehte er sich um und lief den anderen hinterher.

E N D E
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