Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
Vom Netzwerk:
Tempo hätte weitergehen können, und die Wölfe hätten nicht noch einmal attackiert. Trotzdem wurde er immer schneller und schneller, bis er fast in einen Laufschritt fiel, bei dem Schwester Venia und Johannes nur keuchend mithalten konnten. Vermutlich wäre auch ein anderer Mann nicht in der Lage gewesen, sich anders zu verhalten, wenn er gesehen hätte, wie die Schatten überall um ihn herum eine graue, geduckte Form annahmen, bevor sie wieder mit dem Hintergrund eins wurden.
Das Interessante dabei war, dachte er mit dem kleinen Teil seines Hirns, der noch vernünftig denken konnte, dass er vor dem einen Tod nur davonrannte, damit er umso schneller zu dem anderen gelangte.

***

Rainald erinnerte sich an seine hilflose Wut, als die Bauern fortzugehen begonnen hatten. Die Bauern waren immer die ersten, die gingen. Sie waren darauf angewiesen, dass ein starker Grundherr sie verteidigte, während sie seine Scholle bearbeiteten. Gesunde Erde gab es auch anderswo; wenn der Arm des Herrn nicht mehr gesund war, war es Zeit, nach ihr zu suchen.
Die Waffenknechte waren die letzten, wie es in der Natur ihres Dienstes lag. Ihre Zukunft war ungleich unvorhersehbarer wie die der Bauern. Für einen Landpächter war immer irgendwo Platz, und wenn die anderen zusammenrücken mussten – jeder Grundherr trachtete danach, seinen Wohlstand zu vermehren. Burgknechte jedoch … es bedurfte einer gut aufeinander eingespielten Mannschaft, selbst wenn es nur ein halbes Dutzend war, um eine Burg im Ernstfall erfolgreich verteidigen zu können. Neue Mitglieder waren in der Regel unzuverlässig und konnten auch eine Fünfte Kolonne sein. Dennoch – irgendwann waren auch die Waffenknechte gegangen. Es lohnte sich nicht, ein verlassenes Dorf, eine ruinierte Burg und eine Familie zu verteidigen, die aus einem unkontrollierten Zornesausbrüchen oder tagelanger Melancholie verfallenden Burgherrn und zwei Kindern bestand, die vor Trauer und Hilflosigkeit fast stumm geworden waren.
Nachdem die Waffenknechte auch gegangen waren, kam die Wut; dann die Verzweiflung; dann der erste Tag, an dem es nichts zu essen gab.
Der Steinbau, in dem Rainald und die Kinder hausten, war äußerlich unversehrt; innen war noch immer das Zerstörungswerk der Angreifer zu sehen. Rainald hatte irgendwann begonnen, Pfade durch das Trümmerfeld des Saals freizulegen, damit man sich ungehindert bewegen konnte; sie und die Stelle, an der Sophia gelegen war, waren die einzigen Flächen, auf denen sich nicht die Reste von Rainalds vorherigem Leben häuften. Draußen, in der Vorburg und im Dorf, begannen die Ruinen bereits in die Erde zu sinken. Wer sie betrachtete, hätte vermutet, dass schon Jahre seit dem Überfall vergangen waren, nicht nur ein paar Wochen. Wo das Holz nicht schwarz versengt war, war es grau und wirkte antik und halb zerfallen. Von den Dächern herabgerutschte Heugarben lagen zwischen den Hütten und verfaulten. Vorburg und Dorf waren ein Spiegelbild von Rainalds Saal, und alle miteinander zeigten den Zustand seiner Seele.
Rainald blickte mit steigendem Zorn darauf zurück, verdrängte die Angst, dass jemand die Kinder in ihrem Versteck finden würde, während er unterwegs war, zog an Caesars Zügel und trabte zum Wald hinauf. Unter den Bäumen warteten die, die man in jedem Wald fand, die Unzufriedenen, die Ausgestoßenen, die, die eine Rechnung mit der ganzen Menschheit zu begleichen hatten. Sie waren Rainalds letzte Verbündete.
Mit einem Feldzug gegen die Stadt Trier würde er beginnen, einem Feldzug gegen die Kaufleute und ihre Trecks aus Waren, Gewürzen uns Lebensmitteln. Rainald wollte sich vor Selbstekel übergeben, als er auf dem Weg zum Wald und zu den Gesetzlosen war, an deren Spitze er sich gestellt hatte, aber er hatte nichts im Magen. Die Kinder hatten ebenfalls nichts im Magen. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass er nur seine Kinder ernähren wollte, aber es half nichts. Er war der Herr von Mandach, er war willkommen geheißen und beschenkt worden, und nun fiel er über seine Verbündeten her wie ein Wolf, ein Beschützer, der zu einem Feind geworden war.
Deshalb wartete in Trier der Galgen auf ihn. Er hatte ihn sich verdient.

***

Als Johannes, der mittlerweile vor seinem Vater herlief und vergessen zu haben schien, dass er verletzt war, stehenblieb, stupste Rainald ihn sanft an.
„Geh weiter“, sagte er. „Wir haben’s bald geschafft.“
Johannes blieb stehen. „Aber das sind …“
Blanka, die halb bewusstlos in Rainalds
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher